Was ist Sucht? – Die 12 Kernmerkmale zur Entstehung und Behandlung

Die Erklärung dessen, was Sucht ist, wirft bei näherer Betrachtung viele Fragen auf. „Süchtig sind wir alle“, lautet dann eine populäre Vorstellung, die das Suchtkonzept aber letzten Endes ad absurdum führt, weil nichts und niemand mehr einen Unterschied ausmacht. Es gibt in den psychiatrischen Diagnosesystemen ICD-11 und DSM-5 klare Definitionen, durch die Suchtstörungen mit gewisser Genauigkeit festgestellt werden können. 

Suchterkrankungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen in der Bevölkerung, bei Männern sind sie sogar die häufigste vor allen anderen. Allerdings ist in der Bevölkerung und selbst in Fachkreisen nicht so viel über die Entstehungsursachen und die Behandlungsmöglichkeiten von Sucht bekannt. Neben den Substanzsüchten sind Verhaltenssüchte zu berücksichtigen. Das Grundkonzept der Sucht geht von einer biopsychosozialen Verursachung aus. Im Folgenden die 12 Kernmerkmale, die bei der Entstehung und Behandlung von Suchterkrankungen am wichtigsten sind:

1. Sucht hat viele Merkmale eines Zwanges.

Im Denken (Verlangen) und im Handeln (Konsum) entwickeln sich mehr und mehr Zwangsmerkmale. Es handelt sich um einen erworbenen Zwang, der sich wieder entwöhnen lässt. Impulsivität, die Unfähigkeit Verführungen zu entsagen, gehört genauso zum Zwangsverhalten wie dem Nachgehen gegenüber Verlangen (Craving).

2. Sucht wird oft chronisch.

Für die meisten Betroffenen nimmt eine unbehandelte Sucht die Formen einer chronischen Erkrankung an, durch die Körper, Geist, Psyche, Verhalten und soziales Umfeld nachhaltig geschädigt werden.

3. Veränderung beginnt meist von außen,

 jedenfalls am Anfang des Prozesses der Suchtbewältigung. Zur Entwöhnung bedarf es Anstöße von außen (Fremdmotivation, siehe auch „Die 8F der Suchttherapie – Veränderung beginnt mit F!“) und zunehmender innerer Anstrengung und Zielgerichtetheit (Eigenmotivation).

4. Abstinenz ist ein sinnvolles und lohnenswertes Veränderungsziel,

das aus eigener Anstrengung, mit Hilfe von Suchtselbsthilfegruppen, Beratung und Therapie erreicht werden kann. Wird Abstinenz nicht erreicht oder stehen andere Ziele im Vordergrund, vor allem Konsumreduktion, können auch diese Ziele sinnvoll sein. Entscheidend ist, den Teufelskreis aus Kontrollverlust, Selbstzerstörung und psychischen Abwehrmechanismen (Leugnung, Bagatellisierung, Verharmlosung) zu durchbrechen.

5. Die Suchterkrankung entwickelt eine starke Eigendynamik,

zu der kognitive Abwehrmuster, wie Verzerrung, Bagatellisierung, Verharmlosung, Verdrängung und Ignorieren (siehe auch „Sucht als Wahrnehmungs- und Denkstörung: Kognitive Abwehr und Verzerrungen bei Suchtstörungen“), gehören. Alltagssprachlich ist oft die Rede von Lügen und Vertuschen. Diese Abwehrstrategien führen zu einer Verlängerung des Suchtgeschehens und zu starken zwischenmenschlichen Konflikten in Partnerschaft, Familie und sozialen Beziehungen.

6. Verlangen und Rückfälle werden nicht bewusst kontrolliert.

Für die meisten Suchtkranken liegen Verlangen und Einnahmeverhalten, solange sie ihre Krankheit nicht bewältigt haben, außerhalb ihrer bewussten Kontrolle. Dies gilt für kontinuierliche süchtige Substanzeinnahme wie auch für Rückfälligkeit. Zur Bewältigung des Suchtautomatismus bedarf es Achtsamkeit und Selbstreflektion des automatisierten Geschehens.

7. Sucht ist auch eine Gehirnerkrankung.

Chronischer Substanzkonsum und die daraus resultierende Sucht verändern das Gehirn und damit Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Bewusstsein. Das darauf aufbauende Verhalten und Erleben ist anders als ohne den Einfluss der Suchtmittel. Und gerade dies ist für den Betroffenen das zunächst Attraktive am Konsum. Ähnliches gilt für exzessives Verhalten, das zu Verhaltenssüchten führen kann.

8. Sucht betrifft die ganze Familie,

oft über Generationen. Sucht wird zu Recht als Familienkrankheit angesehen, weil alle mitbetroffen sind (vgl. „Suchtkranke Eltern – ein psychisches Risiko für Kinder!? Teil 2: Suchtmittelspezifische und suchtmittelunabhängige Risikofaktoren“). Viele Suchtkranken entstammen aus Familien mit Suchtkranken, die Kinder vieler Suchtkranker werden selbst wieder suchtkrank. Dafür sind biopsychosoziale Einflussfaktoren verantwortlich. Neben genetischen Risiken sind Lebenslagen, Wirkungserwartungen, soziokulturelle Rituale und Verfügbarkeit der Substanzen relevant.

9. Eine Sucht kommt selten alleine.

Weil exzessiver Substanzkonsum ebenso wie hochimpulsive Verhaltensweisen oft psychische Funktionen aufweisen, wie negative Emotionen oder psychische Probleme zu kompensieren („wegzumachen“), sind sie in der Entstehung und Aufrechterhaltung eng mit psychischen Störungen verbunden. Im Ursprung dient der Substanzkonsum der meist unbewussten Selbstmedikation, in der Folge verstärken Suchtstörungen vorhandene psychische Störungen oder erzeugen neue. Sucht ist also eng mit anderen psychischen Störungen (vor allem in den Bereichen Angst, Depression, Antisozialität und Persönlichkeit) verbunden. Diese psychischen Probleme sollten nicht abgetrennt von der Suchterkrankung und vice versa behandelt werden (vgl. „Das „Psycho“ im biopsychosozialen Modell der Sucht – die psychologischen Zugänge zur Entstehung und Behandlung“).

10. Sucht bringt Selbst- und Fremdschädigung mit sich.

Dauerhafter chronischer Substanzkonsum schädigt Körper und Psyche. Suchterkrankungen beinhalten einen Teufelskreis. Zunächst geht es beim erhöhten Substanzkonsum um die Verbesserung psychischer Missempfindungen, oft auch nur unbewusst, oder um die Steigerung des Wohlbefindens. Später bringt der gewohnheitsmäßige Substanzkonsum Selbstschädigungen an Körper und Geist sowie Fremdschädigungen in Bezug auf Familie (Partner und Kinder) mit sich.

11. Jungen und Männer sind besonders gefährdet.

Suchtstörungen können alle Menschen betreffen, aber die Risiken sind unterschiedlich verteilt. Bei den meisten Substanzsüchten (Alkohol, Nikotin, Opioide, Stimulantien) sind drei- bis viermal mehr Männer als Frauen betroffen. Bei den meisten Verhaltenssüchten (Sex- und Pornosucht, Glücksspielsuch) sind ebenfalls deutlich mehr Männer als Frauen betroffen.

12. Persönlichkeitsmerkmale können gefährden oder schützen.

Je nach Persönlichkeitsmerkmalen variiert das Suchtrisiko. Es ist inzwischen klar, dass es nicht die Suchtpersönlichkeit gibt, die für die Krankheit prädisponiert. Mittlere Werte und emotionale Stabilität schützen einerseits vor Suchtstörungen. Ich-Schwäche, emotionale Instabilität, Neurotizismus, Ängste und Depressivität sind andererseits Risikofaktoren für Substanzmissbrauch und in der Folge auch für Suchtstörungen.

Fazit: Die 12 Kernmerkmale der Sucht

Die zwölf Grundsatzfakten zu Suchtstörungen sind ein grober Verständnisrahmen. Der Bedarf an Forschung, gezielter Prävention und verbesserten Behandlungsformen ist immens. Die Ursache dafür ist, dass die Relevanz von Suchtstörungen in der Bevölkerung bei weitem unterschätzt wird. Was einzelne Betroffene über Jahre abwehren und verdrängen, wird auch auf der Systemebene von den meisten Verantwortlichen in Politik, Bildungswesen und Gesundheitssystem gerne tabuisiert. Betrachtet man Substanz- und Verhaltenssüchte zusammen, sind jährlich – konservativ berechnet – mehr als 8 Mill. Menschen in Deutschland betroffen. Davon sind etwa 70% Männer, 30% Frauen. Es lohnt sich, mehr in Prävention, Aufklärung und Behandlung zu investieren. 

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