Selbstmitleid – Nicht gut für Suchtkranke?! (Sucht und Emotionen #4)

Suchtkranken wird immer wieder ein hohes Maß an Selbstmitleid zugeschrieben. Diese Rückmeldung kommt sowohl von Angehörigen und Suchtselbsthilfegruppen als auch aus Suchttherapien. Wenn Suchtkranke sich selbst bedauern und betonen, dass sie schlecht behandelt wurden oder eine schwierige Kindheit ins Feld führen, kommt dies besonders bei Angehörigen, wenn es Hunderte von Malen wiederholt wird, auf die Dauer schlecht an. Es löst auch nicht ihre Suchtproblematik, sondern liefert eher Entschuldigungen für Nicht-Veränderung und Status Quo. Das Umfeld sieht darin einen Abwehrmechanismus gegen eigene Veränderung und Verantwortungsübernahme, ohne dass es die kritischen Ereignisse im Leben des Suchtkranken selbst leugnen will. Darüber hinaus kann das Zirkeln im Selbstmitleid auch einen Mangel an Veränderungsmotivation oder Ausdruck von Hoffnungslosigkeit darstellen. Der Kernaspekt beim Selbstmitleid ist die Unwilligkeit oder Unfähigkeit, Verantwortung für sich selbst – auch in einem schwierigen Kontext – zu übernehmen. Aber für Selbstmitleid kann es höchst verschiedene Hintergründe geben. Darum geht es im Folgenden.

Was ist Selbstmitleid überhaupt?

Selbstmitleid ist eine negative emotionale Reaktion, bei der eine Person sich selbst bedauert, sich im Allgemeinen als Opfer ansieht und übermäßig auf ihre eigenen Probleme, Schwierigkeiten oder Leiden fokussiert ist. Es beinhaltet oft ein starkes Gefühl der Selbstzentriertheit und der Betonung der eigenen Misere im Vergleich zu den Problemen anderer Menschen. Selbstmitleid wird dann kritisch, wenn es im Übermaß und auf Dauer die soziale Interaktion dominiert. Selbstmitleid kann langfristig dazu führen, dass eine Person sich hilflos, passiv oder resigniert fühlt und Schwierigkeiten hat, Verantwortung für ihre Situation zu übernehmen oder positive Veränderungen herbeizuführen. Das Ausmaß und die Häufigkeit von Selbstmitleid sind also entscheidend für das Gelingen sozialer Beziehungen genauso wie für das eigene Wohlergehen. Dosiertes Selbstmitleid ist unproblematisch und kann sogar entlasten, während dauerhaftes, überwiegendes Selbstmitleid hochproblematisch ist. Es macht passiv und resignativ, belastet und nervt das soziale Umfeld.

Wann entsteht Selbstmitleid besonders oft?

Selbstmitleid entsteht oft im Kontext bestimmter Lebensereignisse und Situationen. Menschen können aus verschiedenen Gründen zum Selbstmitleid neigen. Diese sind:

  1. Einschneidend Erfahrungen von Verlust, Enttäuschung oder Misserfolg.
  2. Lang anhaltender übermäßiger Stress oder außergewöhnliche subjektive Belastung.
  3. Ein Mangel an Selbstwertgefühl oder Selbstakzeptanz.
  4. Negative soziale Vergleiche, bei denen eine Person ihr Leben als weniger glücklich oder erfolgreich im Vergleich zu anderen betrachtet.
  5. Bei Entwicklung oder Vorhandensein negativer Denkmuster oder Überzeugungen über sich selbst und die Welt.
  6. Als Abwehr gegen psychische Krankheitssymptome, um die tieferen Ursachen nicht wahrnehmen und akzeptieren zu müssen.

Typische Selbstmitleidssätze 

Es gibt viele Formen von selbstmitleidigen Äußerungen. Meist kommen verbale und nonverbale Äußerungen zusammen. Die Nonverbalität wirkt antriebsarm, verlangsamt und freudlos. Sie ist ein Appell zum Bedauertwerden. Die verbalen Äußerungen drehen sich um Themen wie: „Ich kann das nicht“, „Es hat keinen Sinn“, „Ich hatte eine schwere Kindheit“, „Keiner mag mich“, „Keiner versteht mich“, „Mit mir will niemand etwas zu tun haben“, „Alle hacken auf mir rum“, „Wenn Du wüsstest, wie es mir geht, würdest Du anders reden“ usw. Auch wenn viele der Äußerungen depressiv wirken, muss es sich nicht zwingend um eine Depression handeln. In vielen Fällen geht es um Resignation, Hilflosigkeit, Apathie und Einsamkeit. Von zentraler Bedeutung für selbstmitleidige Menschen ist, dass sie nicht für ihren Zustand, ihre möglicherweise vorhandene psychische Erkrankung oder gar ihre bisherigen Lebensereignisse verantwortlich gemacht werden. Dies verschlimmert alles nur noch und vermittelt ihnen unberechtigterweise Schuldgefühle. Vielmehr sollten sie aber ermuntert werden, Verantwortung für die Veränderung ihrer Situation und – vor allem – ihrer Haltung und ihrer Selbstwahrnehmung zu übernehmen. Aktivierung statt Passivität, gerne auch in sehr kleinen Schritten!

Chronisches, starkes Selbstmitleid stellt ein destruktives Verhaltensmuster dar, das Wohlbefinden und Lebensqualität sehr stark beeinträchtigen kann. In solchen Fällen können eine genaue psychodiagnostische Abklärung und psychotherapeutische Hilfe nötig sein. 

Formen und Hintergründe des Selbstmitleids

Selbstmitleid kann verschiedene Ausdrucksformen und Hintergründe haben. Hier die häufigsten und wichtigsten:

Narzisstisches Selbstmitleid

Narzissmus ist durch ein defizitäres Selbsterleben gekennzeichnet. Man bekommt nicht genug Anerkennung, Bestätigung, Zuwendung oder Ähnliches und fühlt sich dauerhaft ungerecht behandelt. Meist ist diese Sicht auf sich selbst und das eigene Leben sehr verzerrt, aber auch unflexibel, chronifiziert und daher nur schwer veränderbar. Darunter leidet der Betroffene und lässt das Umfeld umso intensiver daran mitleiden. Der Betroffene wird nie „satt“, zufrieden und ausgefüllt. Mehr verlangt nach noch mehr, ein Weniger ist unerträglich und führt zu stärkerem Leiden. Das narzisstische Selbstmitleid kommt wie eine Anklage an andere rüber, dass diese dem Narzissten nie genug gegeben haben. Die Realität ist oft eine völlig andere. Suchtmittel sind in dem Kontext des Narzissmus dazu da, die subjektiv unerträgliche Welt erträglicher zu machen und sich selbst immer weiter von der Realität zu entfernen. Sie schaffen ein künstlich vergrößertes Ich-Gefühl. Chronisches Selbstmitleid gehört zur Symptomatik des fragilen Narzissmus, bei dem der Betroffene ein zerbrechliches ich-schwaches Selbstbild aufweist, dies aber überspielt und andere verantwortlich macht. 

Posttraumatisches Selbstmitleid

Viele Suchtkranke haben in Kindheit und Jugend schwerwiegende Traumatisierungen erlitten. Bei Drogenabhängigen sind dies mehr als 80%, bei Alkoholabhängigen mehr als 40% der Suchterkrankten. Die Traumatisierungen bestanden in Vernachlässigung, physischer und emotionaler Misshandlung, sexuellem Missbrauch und bisweilen auch Unfällen und körperlichen Verletzungen. Schwerwiegende Gewalterfahrungen – vor allem physisch und psychisch – sind meistens vorhanden. Wenn traumatisierte Suchtkranke ein hohes Ausmaß an Selbstmitleid zeigen, ist dies Zeichen der Folgen der Traumatisierung, dass sie darin noch gefangen sind und meinen, durch Selbstmitleid Erleichterung zu erreichen und Mitgefühl aus dem Umfeld zu bekommen. Chronisches, übermäßiges posttraumatisches Selbstmitleid bedeutet aber auch, in der Traumatisierung gefangen zu bleiben, keinen Abstand zu erlangen und somit das Ursprungsproblem nicht zu bewältigen. Starker Subtanzgebrauch im Kontext von Traumatisierungen dämpfen zwar deren Effekte, lösen aber nicht die Grundproblematik.

Depressives Selbstmitleid

Eng verwandt mit dem durch Traumatisierung erzeugten Selbstmitleid ist das depressive Selbstmitleid. Hier entsteht durch eine anhaltende depressive Symptomatik – vor allem negatives Denken – eine starke Tendenz zum Selbstmitleid. Man fühlt sich in der depressiven Stimmung gefangen. Viele Betroffene machen sich selbst dafür verantwortlich, was den inneren Druck und die intrapsychische Spannung noch erhöht. Weil sie andererseits ihre Problematik aber nicht verbessern, geschweige denn lösen können, stellt das Selbstmitleid eine Art Ventil im dauerhaften depressiven Befindlichkeitskreislauf dar. Insofern stellt das depressive Selbstmitleid, oft gepaart mit Einsamkeit, einen Zustand hoher Bedürftigkeit dar, bei dem jedoch die Fähigkeit, sich adäquat mitzuteilen, gering ausgeprägt ist.

Selbstmitleid aus Opfermentalität

Menschen mit einer starken Opfermentalität neigen dazu, sich selbst als Opfer von Umständen oder anderen Menschen zu sehen. Dies entspricht nicht immer den Tatsachen, sondern oft einem Mangel an Verantwortungsübernahme und Realitätssinn. Wie auch immer die Umstände im Lebenslauf im Einzelnen waren, ist es bei der Bewältigung besser, aktiv zu werden und Verantwortung für die Veränderung zu übernehmen. Sonst ist die Gefahr zu groß, anderen die Schuld für die eigenen Probleme zu geben und sich in immer mehr Situationen machtlos zu fühlen. Die Motivation, etwas zu verändern, bleibt in der chronifizierten Opferrolle gering, auch weil dies sekundäre Vorteile mit sich bringt (Krankheitsgewinn) und von Verantwortung und Anstrengung befreit. Im Hintergrund steht meist als Persönlichkeitsmerkmal eine starke externale Attributionstendenz. Darunter wird die Erklärung von Ereignissen mit Ursachen außerdem der eigenen Person verstanden. Wer stark external attribuiert, hat in letzter Konsequenz keine Kontrolle über sein Leben. Dass diese Personen sich langfristig von der passiven Rolle abhängig machen, spielt dabei für sie keine störende Rolle. Gerade in einer Gesellschaft, in der Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft immer negativer konnotiert werden, kann eine solche Opferrolle zu viele Vorteile mit sich bringen. 

Selbstmitleid in Folge von Perfektionismus

Perfektionisten setzen sich unrealistische Standards, zu hohe, nicht erreichbare Ziele und müssen deshalb immer wieder scheitern. Sie sind hart zu sich selbst, wenn sie diese Standards nicht erfüllen. Sie neigen dazu, sich selbst für Fehler oder Misserfolge stark zu kritisieren und fühlen sich deshalb oft unzulänglich. Daraus kann eine selbstabwertende und selbstmitleidige Haltung resultieren. Statt den übertriebenen, nicht erreichbaren Anspruch an sich selbst, der letztlich aus Angst vor Fehlern im Allgemeinen oder dem Scheitern im Einzelnen resultiert, zu verändern, bleiben sie der Utopie des Perfekten verhaftet. Aus dieser irrealen Haltung können sie depressiv werden, immer wieder verzweifeln und oft genug auch Suchtmittel konsumieren, um die Folgen ihres unrealistischen Denkens und häufigen Scheiterns zu ertragen. Meist verfangen sie sich dabei mehr und mehr im Selbstmitleid. Sie beklagen die logischen Konsequenzen ihrer unrealistischen Grundeinstellung, anstatt die Ursachen dieser immer wieder eintretenden Folgen zu verändern.

Passiv-aggressive Grundhaltung

Bisweilen kann chronisches Selbstmitleid auch aus einer habituellen passiv-aggressiven Haltung bis hin zu einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung resultieren. Die innere Einstellung beruht dann auf einer versteckten, aber starken Aggressivität gegenüber der Umwelt. Diese kann sich in querulatorischen, negativistischen Äußerungen zeigen. Nicht selten herrscht ein geschlossenes negativistisches Weltbild vor, durch das sich die betroffene Person betrogen und benachteiligt fühlt. Grund genug für Selbstmitleid! Oft steht dabei die Wahrnehmung im Zentrum, dass man sich wehren muss, dies aber nur verdeckt tun kann. Dafür sind indirekte Vorwürfe und Vorhaltungen ideal geeignet. Diese erwecken beim Gegenüber meist den Eindruck starker Unzufriedenheit und Selbstbemitleidung der jeweiligen Person. 

Passivität als Grundmerkmal

Allen Selbstmitleidsäußerungen ist die Passivität des Betroffenen gemein. Die Person glaubt, nichts an ihrer Lage ändern zu können, und unterlässt in der Folge dann auch jegliche Anstrengungen in diese Richtung, weil diese ja sowieso keinen Erfolg hätten. Selbstmitleid erzeugt eine resignative, passive Haltung. Substanzkonsum betäubt das erlebte Unglück kurzfristig, erzeugt aber auf die lange Sicht noch mehr Unglücksgefühle und Selbstmitleid – der Teufelskreis der Sucht. Und dies wird auf Dauer zum Hauptproblem. Die betroffene Person wird als jammernd, klagend, oft auch als anklagend, und nicht veränderungsbereit wahrgenommen. Die Menschen aus dem Umfeld wenden sich mehr und mehr ab. Es entsteht Vereinsamung und die Spirale des Selbstmitleids verstärkt sich, denn das Sich-Abwenden der Anderen dient als Beweis, dass das Selbstmitleid berechtigt ist. Das Notwendige, sich nämlich sich selbst mit aktivierenden Schritten zuzuwenden, wird immer unwahrscheinlicher und schwieriger

Gibt es Vorteile des Selbstmitleids?

Selbstmitleid kann kurzfristig Trost bieten, indem es einer Person erlaubt, sich auf ihre eigenen Gefühle zu konzentrieren. Langfristig kann jedoch übermäßiges Selbstmitleid zu einem Gefühl der Stagnation, Hilflosigkeit und Einsamkeit führen, da es die Fähigkeit und Motivation zur Problemlösung und zur Bewältigung von Herausforderungen beeinträchtigen kann. Kurzfristig hat dieses Verhalten auch Vorteile. Sonst würde es nicht gezeigt. Personen mit Selbstmitleidsäußerungen bekommen immer wieder Zuwendungen Dritter, vor allem von solchen Menschen, die das chronische Verhalten noch nicht kennen. Daher braucht der Selbstmitleidige immer wieder neue Kontakte, wenn die alten sich „erschöpft“ zeigen und sich zurückziehen oder zunehmend ärgerlich werden. Selbstmitleid hilft insofern immer wieder kurzfristig zur Entlastung – ein lernpsychologisches Grundgesetz: schnell hilft mehr, aber nicht auf Dauer. Bei entsprechend kritischem Feedback kann Selbstmitleid jedoch auch den Einstieg in eine aktivere Beschäftigung mit sich selbst sein. Solche Feedbacks können am ehesten in der Suchtselbsthilfegruppe oder in der Therapiegruppe aufkommen. Dann führt der Weg zu echter Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl. Diese sind durch die aktive Bewältigung und Verbesserung der eigenen Situation gekennzeichnet.

Selbstmitleid oder Selbstmitgefühl? 

Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen Selbstmitleid und Selbstmitgefühl. Während Selbstmitleid ein negatives und oft lähmendes Gefühl ist, beinhaltet Selbstmitgefühl eine wohlwollende und mitfühlende Haltung gegenüber sich selbst, die es einer Person ermöglicht, ihre eigenen Schwierigkeiten anzuerkennen, ohne sich selbst als Opfer zu betrachten. Dies aktiviert Änderungsmotivation und Energien zur Veränderung. Selbstmitgefühl beinhaltet die Fähigkeit, mitfühlend und unterstützend mit sich selbst umzugehen, während man gleichzeitig die Verantwortung für das eigene Wohlbefinden übernimmt und die Möglichkeit zur Veränderung sieht.

Abschließend: 5 Tipps zum veränderten Umgang mit Selbstmitleid

  1. Selbstmitleid immer nur dosiert und am besten humorvoll äußern! Am besten aber darauf verzichten!
  2. Überlege Dir, woher das viele Selbstmitleid in Deinem Leben kommt! Nutzt es wirklich? Wie haben sich Deine sozialen Beziehungen in Folge von zu viel Selbstmitleid entwickelt? Gibt es Verschlechterungen oder Vereinsamung? 
  3. Ziehe Dich nicht in eine resignative, passive Welt zurück! Übernimm Verantwortung für Dein Leben! Dazu gehört auch Dein Substanzkonsum. 
  4. Im Hier und Jetzt zu leben und die Zukunft Schritt für Schritt anzugehen, ist zielführender und gesünder als eine negative Sicht auf das eigene Leben und die ganze Welt.
  5. Kümmere Dich gut um Dich und Deine Angehörigen, die Du liebst. Sei mit Dir selbst so empathisch und konsequent zugleich, wie Du es von Deinem besten Freund erwartest!

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