Inhaltsübersicht
Sucht verändert Wahrnehmung und Denken bis zur Unkenntlichkeit
Dass Suchtstörungen von Alkohol-, über Drogen- bis hin zu den modernen Verhaltenssüchten in den Bereichen Glücksspiel, Kaufen und Internet das Denken und die Selbsterkenntnis von Menschen negativ beeinflussen können, ist grundsätzlich schon lange bekannt. Angehörige erleben dies oft leidvoll über Jahre und sind erstaunt, wie ihr suchtkranker Partner, ihr Vater oder ihre Mutter die Welt sieht. Oft wirkt es so, als ob die Realität auf dem Kopf steht oder der Abhängige in einer ganz anderen Welt lebt, die kaum nachvollziehbar wirkt.
Auf jeden Fall ist diese „Weltsicht unter Sucht“ für Angehörige eher ein Zerrbild der Realität und oft sehr belastend. Aber was geschieht dabei genau im Denken und letztlich im Gehirn des Suchtkranken oder der Person, die auf dem Weg ist suchtkrank zu werden und vielleicht schon ganz kurz davor steht? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach und will Ihnen Einsichten und Erkenntnisse dazu aus Forschung und Praxis liefern. Sie sollen helfen, die Innenwelt der Sucht nachvollziehen zu können und Hilfen und Begleitung zur Veränderung zu liefern.
Die veränderte Realitätssicht als Hauptsymptom der Sucht
Lange Zeit galt die mangelnde Behandlungsbereitschaft von Suchtkranken als ein Mangel an Krankheitseinsicht, eine lästige Abwehr dessen, was doch leicht ist einzusehen. Die Tradition der Zwölf-Schritte-Programme (AA, NA usw.) erwartet vom Suchtkranken eine Art Läuterung, eine völlige Umkehr und Kapitulation vor der übermächtigen Droge, wenn er wahrhaftig änderungsbereit ist. Was aber, wenn das Nicht-Erkennen der Realität beim Suchtkranken keine Folge, sondern eine Begleiterscheinung oder gar Ursache der Suchterkrankung ist? Auch diese Sicht sollte nach heutiger Forschungslage in Betracht gezogen und in therapeutisches Handeln transferiert werden.
Verzerrungen gehören zur Sucht – bei Entstehung und Aufrechterhaltung
Sucht hat viel mit Verzerrungen, Abwehr und Leugnung zu tun. Alltagssprachlich wird dann von Verheimlichen, Lügen, Täuschen und Betrügen gesprochen. Dies bedeutet dann aber automatisch auch eine Abwertung und oft Stigmatisierung der betroffenen suchtkranken Person. Dadurch wird sie noch schwerer erreichbar. Aber die ganze Abwehr stillschweigend zu akzeptieren ist auch keine Lösung, besonders nicht für die Angehörigen. Ist der Suchtkranke für diese Folgen in Kognition und Verhalten verantwortlich oder läuft ein Programm, das sie selbst nicht mehr kontrollieren kann?
Wenn wir uns den Erlebenshintergrund suchtkranker Menschen anschauen, sind es oft Scham- und Schuldgefühle, die zunächst als Gründe für die Abwehrverhaltensweisen ins Auge fallen. Es sieht also so aus, dass Suchtkranke zumindest spüren oder vielleicht sogar genau wissen, dass sie Dinge tun, die sie vor ihrem eigenen Wertesystem nicht tun sollten und sie daher vor ihrem Bewusstsein abwehren müssen. Diese kognitiven Abwehrmechanismen werden sowohl in der Entstehungs- als auch in der Aufrechterhaltungsphase der Sucht beobachtet. Ihnen liegen, wie inzwischen erforscht ist, neurobiologische Prozesse, insbesondere in Frontalhirn und im limbischen System zugrunde.
Abwehr – ein schleichender Prozess mit vielen Facetten
Die kognitiven Abwehr- und Verzerrungsmuster, die sich bei Suchtkranken zeigen, entwickeln sich meist schleichend, parallel zum fortschreitenden problematischen Substanzkonsum oder dem Verhaltensexzessproblem, wie etwa Kaufsucht oder Glücksspielsucht. Kognitive Abwehr taucht in vielen Situationen des Alltags auf, auch bei Ängsten und emotionalen Krisen. Sie ist also kein Spezifikum für Suchterkrankungen. Im Gegenteil: Die Psychoanalyse hat in ihrer über 100-jährigen Geschichte ein fein differenziertes Verständnis für emotionale Abwehrprozesse bei Menschen geschaffen, von der Abwertung, der Verleugnung, der Verdrängung bis hin zur Sublimierung und Rationalisierung.
Bei Suchtstörungen sind die Abwehrbildungen jedoch meist wesentlich stärker und – im Falle der Substanzstörungen – psychopharmakologisch verursacht oder zumindest beeinflusst (vgl. den Beitrag „Von der Lust am Widerstand zur Unfähigkeit zur Anpassung – eine Reise durch die psychologischen Abwehrmechanismen bei Sucht“ vom 01. April 2020 unter https://www.addiction.de/abwehr-corona/). Diese Verursachung hat ihren Grund zum einen in den akut sedierenden und bewusstseinsverändernden Wirkungen der Substanzen, zum anderen – und dann dauerhafter und am Ende chronisch – in den kognitiven und emotionalen Reaktionen auf Kontrollverlust und exzessiven Konsum („bingeing“).
Die suchttypischen psychologischen Reaktionen können – im Unterschied zu den punktuellen Intoxikationseffekten – sowohl bei Substanzkonsum als auch bei Verhaltensexzessproblemen als Reaktion auf Verlangen („craving“) und Entzug („withdrawal“) als kognitive Gegenregulation auftreten. Es handelt sich also hier im Grunde um kognitive Anpassungsprozesse an sich veränderndes Verhalten und Selbsterleben, um ein homöostatisches Gleichgewicht des Selbst (Selbstbild, Selbstwert) aufrechtzuerhalten.
Was gibt es denn abzuwehren?
Grundsätzlich stellt sich die Frage, was Menschen mit entstehender oder bestehender Suchtproblematik überhaupt abwehren wollen. Sozialpsychologisch ist dies durch Prozesse der kognitiven Dissonanzreduktion erklärbar. Wenn sich reales Verhalten immer mehr von den eigenen Zielen nach Kontrolle, Selbstbestimmung und Unlustvermeidung entfernt, wird das innere Missempfinden immer stärker. Entweder der Betroffene entscheidet sich zu der Sichtweise, dass er unkontrolliert, willensschwach und labil ist, was aber einem negativen Selbstbild mit depressiver Tendenz entspricht, oder er steuert massiv gegen diese Bedrohungen des Selbstbilds an. Und zwar durch andere Interpretationen der Realität. Dann ist der andauernde übermäßige Substanzkonsum Ausdruck eines selbstlegitimierten Verhaltens, z.B. wegen Dauerstress am Arbeitsplatz, mit der Partnerin oder aufgrund einer anderen von vielen möglichen Stressquellen. Diese können auch im Inneren der Person begründet sein, etwa durch physische Gesundheitsprobleme oder psychische Beeinträchtigungen, z.B. in Folge einer frühen Traumatisierung.
Im Hintergrund entfaltet sich eine starke Dynamik der kontinuierlichen Veränderung der Realitätswahrnehmung, wenn immer stärkere dissonante Wahrnehmungen abgewehrt werden müssen. Diese Dynamik erzeugt mehr und mehr automatische konsumförderliche Gedanken, die dann in Konsumsituationen immer wieder – blitzschnell und implizit, also unbewusst – auftreten.
Kognitive Verzerrungen – Kontrollillusion als Grundproblem
Dass kognitive Verzerrungen im Allgemeinen zur menschlichen Wahrnehmung und zum Informationsverarbeitungsprozess gehören, ist schon lange bekannt und gilt inzwischen als Grundaxiom der kognitiven Psychologie. Es wurde auch in diesem Text schon beschrieben. Dass die kognitiven Prozesse bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Suchtstörung besonders verzerrt sind, ist dann der klinisch psychologische Impact der klinischen Besonderheit von Suchtstörungen. Es beruht auf dem Grundaxiom der Verzerrung als Wahrnehmungsprinzip in besonders dissonanten Realitäten, seien sie externaler oder internaler Natur.
Die Illusion der Kontrolle ist eines der wichtigsten kognitiven Einzelphänomene, das es dabei zu beachten gilt. Unter der Kontrollillusion wird die fälschliche Annahme verstanden, eine Situation oder ein Verhalten – überhaupt oder noch – beherrschen und beeinflussen zu können. In Wirklichkeit hat die Kontrolle darüber bereits so sehr nachgelassen, dass Kontrollbemühungen nicht mehr funktionieren. Die Kontrollbemühungen werden dann gar nicht mehr versucht, um das zu erwartende Scheitern nicht erleben zu müssen, während sich das Individuum andererseits mit der Illusion der Kontrolle („Wenn ich es versuchen würde, würde ich es schaffen“) zu indoktrinieren und damit beruhigen versucht.
Kontrollillusion – ein Hauptmerkmal der Glücksspielsucht
Bei Glücksspielsucht ist das Phänomen der Kontrollillusion gut erforscht. Es gehören Interpretationsverzerrung und Ergebnisvorhersage dazu. Begünstigend zur Entwicklung von Kontrollillusion in Zufallssituationen sind Vertrautheit, Wahlmöglichkeit und eigene Beteiligung. Die grundlegende Arbeit zur Kontrollillusion ist Ellen Langers Studie „The illusion of control“ (1975). Langer (Yale University) zeigte, dass Menschen so handeln, als ob sie durch ihr Tun den Ausgang von zufälligen oder durch Zufall bestimmten Ereignissen kontrollieren und verändern könnten, wenn einige Grundbedingungen erfüllt sind. Dabei handelt es sich um die schon erwähnten Variablen Vertrautheit, Wahlmöglichkeit und eigene Beteiligung. Zum Beispiel schätzen Menschen ihre Gewinnchancen beim Lotto höher ein, wenn sie selbst die Zahlen ausgewählt haben, als wenn ihnen diese zugewiesen wurden. Damit Spieler die Illusionskontrolle während einer Glücksspielsitzung aufrechterhalten können, ist eine selektive Wahrnehmung der illusionsunterstützenden Momente erforderlich.Hierbei sind die optischen und akustischen Reize der Glücksspielautomaten und die illusionären Risikotasten hilfreich, um die Illusion der Kontrolle gezielt zu verstärken.
Ohnmachtserleben und Kontrollillusion passen gut zusammen
Eine wichtige Erklärung für die Kontrollillusion könnte in einer dysfunktionalen Selbstregulation liegen. Personen, die ein übersteigertes Bedürfnis aufweisen, ihre Umgebung zu kontrollieren, werden stets versuchen, gegenüber Chaos, Unsicherheit und Stress diese Kontrolle zurückzugewinnen. Nach Klaus Grawe ist das Bedürfnis nach Kontrolle der Umwelt eines der zentralen menschlichen Grundbedürfnisse. Gelingt Menschen die Erfüllung dieses Bedürfnisses nicht oder zeigen sie ein übersteigertes Kontrollbedürfnis, könnten sie sich bei Nichterfüllung zur Bewältigung auf einen defensiven Umgang mit “Kontrolle” zurückziehen – mit der Folge der Ausbildung einer immer stärkeren Kontrollillusion.
Der defensive Umgang würde dann darin bestehen, dass sie den subjektiven Eindruck hinreichender Kontrolle der Umwelt erleben müssen, obwohl faktisch keine ausreichende Selbst- und Fremdkontrolle besteht. Suchtkranke bemühen sich nicht mehr um die Rückgewinnung der faktischen Kontrolle über sich und ihre Umwelt, sondern begnügen sich mit der imaginierten Illusion, diese Kontrolle zu besitzen. Dies würde dem klassischen Befund der Suchtforschung entsprechen, dass – zumindest für alkoholabhängige Männer – die Abwehr von Ohnmachtsgefühlen ein besonders wichtiges Konsummotiv ist. Schon David McClelland hat dies 1972 in experimentellen Studien herausgefunden. Hier bewahrheitet sich der aus der psychologischen Männerforschung bekannte Satz „die Macht der Männer ist nur ihre Ohnmacht“.
Kognitive Verzerrungen können auch Teil der Persönlichkeit sein
Die beschriebenen kognitiven Verzerrungen können natürlich auch im alltäglichen Dasein vorkommen und ohne kognitive Verzerrungen würden Menschen nie ein zufriedenes, glückliches Leben führen können. Wahrnehmen heißt immer filtern und verändern von sensorischen Reizen. Bei Sucht handelt es sich um starke, extreme und am Ende auch habituelle Wahrnehmungsveränderungen. Die kognitiven Systeme sind dauerhaft in einem veränderten Informationsverarbeitungsmodus. Generell können extreme kognitive Verzerrungen aber auch bei Menschen aufgrund anderer Besonderheiten auftreten, insbesondere durch neurologische Erkrankungen (vgl. Oliver Sacks: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) oder bei Psychosen und Persönlichkeitsstörungen.
Interessanterweise alles klinische Auffälligkeiten, die komorbid mit Suchtstörungen auftreten können. Im Extrem sind es Persönlichkeitsstörungen, die zu dauerhaft veränderter und verzerrter Realitätswahrnehmung – bisweilen psychoseähnlich – führen. Deshalb treten gerade in diesem Kontext so oft Beziehungsstörungen auf, weil die betroffenen Menschen sich stark von anderen unterscheiden und obendrein wenig Empathie mitbringen. Da gerade Sucht- und Persönlichkeitsstörungen oft komorbid auftreten – es ist von einer Komorbidität von bis zu 50% auszugehen – können Realitätsverzerrungstendenz und Wahrnehmungsstörung im Rahmen einer Persönlichkeitsstörung auch Risikofaktoren zur Entwicklung einer Suchtstörung darstellen. Und damit gingen sie einer Suchtstörung voraus und würden durch diese bestenfalls noch verstärkt. Die Merkmale der Persönlichkeitsstörungen interagieren dann mit den Substanzeffekten und bilden in einer sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkung den ätiologischen Hintergrund einer komorbiden Sucht- und Persönlichkeitsstörung. Dass gerade diese Störungskombination unter Psychotherapie geringe Behandlungseffekte zeigt und auch lange Therapieprozesse benötigt, liegt dann wegen der komplexen Wahrnehmungsverzerrung auf der Hand. Und ist Herausforderung zugleich!
Abwehr – Basis und Perfektion
Suchtkranke gelten als Meister der Verzerrung, Verleugnung, Bagatellisierung, Selbst- und Fremdtäuschung – kurz als perfekte Abwehrstrategen der eigenen Lage und Realität. Besonders Angehörige berichten dies immer wieder und verzweifeln oft schier daran. Dieses Phänomen wird leider viel zu selten in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung gestellt, nämlich wie genau diese kognitiven Abwehrstrategien funktionieren, wie sie sich entwickeln, vertiefen und perfektionieren.
Es hat sicher mit den unangenehmen, negativen Gefühlen zu tun, die möglicherweise vor einer Suchtkarriere schon bestanden haben und dann durch das Suchtmittel modifiziert und im Idealfall negiert werden. Und negativ mal negativ wird positiv. Diesen Effekt will ein Mensch nicht mehr missen. Also wird eher die Grundtatsache des negativen Ausgangszustands geleugnet. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass ein Mensch die Kontrolle über sich verliert. Dies ist ein emotionaler und kognitiver GAU. Sich wiederholender Kontrollverlust über Konsummengen und –dauer, über eigene Gefühle, Vorsätze und am Ende das eigene Denken und Verhalten muss ganz bestimmt abgewehrt werden.
Mehr als sedierende Effekte
Dass bei Suchtstörungen die kognitiven Verzerrungen und die Abwehr gegenüber „einfachen“ Wahrnehmungsprozessen sehr stark sind, kann nicht nur mit den sedierenden und bewusstseinsverändernden Effekten der Substanzen auf das Gehirn erklärt werden. Weil diese Verzerrungs- und Abwehrprozesse in den allermeisten Fällen so stark sind, liegt es nahe, apriorische Auffälligkeiten in den Bereichen Persönlichkeit (siehe oben) und Kognition anzunehmen. Bei vielen späteren Suchtkranken können frühe Auffälligkeiten in der Wahrnehmung und Emotionsverarbeitung festgestellt werden, etwa ADHS im Kindesalter, Impulskontrollstörungen oder FASD.
Dies kann in Verbindung mit den Substanzkonsumeffekten für einen hypersuppressiven Kognitionseffekt in der Ätiologie der Suchterkrankung sorgen. Mit hypersuppressiven Kognitionseffekten sind besonders stark unterdrückende und verzerrende Wahrnehmungen der Umwelt und vor allem der eigenen Person und aller sich selbst betreffenden Prozesse gemeint. Dieser hypersuppressive Kognitionseffekt ist dann neben den Effekten der psychopharmakologischen Sedierung auch verantwortlich für das von Suchtkranken oft berichtete Phänomen, dass sich ihre Abhängigkeit schleichend entwickelt habe und dass es, als sie es schließlich gemerkt hätten, zu spät gewesen sei. Dabei taucht unmittelbar die Frage auf, für was es dann zu spät gewesen sei.
Gemeint ist wohl ein Abwehr- und Kontrollprozess, mit dem sie ihr Verhalten unter Eigenkontrolle gehalten hätten. Aus dieser Sichtweise resultiert wohl auch das Empfinden, dass die Suchterkrankung etwas ist, was von außen – aus der Umwelt – komme. Richtig dabei ist wohl, dass die psychotropen, suchterzeugenden Substanzen von außen kommen und dass es zahlreiche konsumbahnende Trigger auf der Basis klassisch konditionierter Effekte gibt.
Kognitive Probleme sind die Regel, nicht die Ausnahme
Bei chronischem Substanzkonsum und Suchtstörungen treten im Regelfall zahlreiche kognitive Besonderheiten und Störungen auf, über die im Folgenden genauer berichtet wird. Allgemein ist zwischen akuten Intoxikationseffekten im Sinne von Subtanzwirkungen und überdauernden Effekten im Sinne von strukturellen Hirnveränderungen und Verhaltensanpassungen zu unterscheiden. Häufiger können aber auch längerfristige kognitive Folgebeeinträchtigungen vorliegen, die kleineren Umfangs sind, jedoch zu dauerhaften relevanten Verzerrungen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses führen. Postmorbide Schädigungen der Sucht, die kognitive Probleme bereiten, umfassen das amnestische Syndrom.
Korsakow-Syndrom schon 1887 erstmals beschrieben
Die bekannteste neurokognitive Störung ist das Korsakow-Syndrom (Morbus Korsakow), eine Form der alkoholinduzierten Amnesie (Gedächtnisstörung). Eine erste detaillierte Beschreibung wurde 1887 von dem russischen Psychiater und Neurologen Sergei Korsakow (1854–1900) veröffentlicht. Er hatte eine Fallstudie bei 18 Alkoholkranken mit chronischen Gedächtnisauffälligkeiten veröffentlicht. Die Hauptmerkmale sind Merkunfähigkeit bzw. eingeschränkte Merkfähigkeit, Erinnerungslücken, Konfabulationen als Folge der Merk- und Erinnerungsprobleme sowie Desorientierung.
Dem alkoholischen Korsakow-Syndrom liegt meist eine allgemeine Vitamin-B1-Mangelerkrankung zugrunde, wie sie beim Wernicke-Syndrom beschrieben wird, das daher oft das Vorläufersyndrom darstellt.
Kognitive Schäden bei Suchtmitteln – Henne, Ei oder beides?
Aber auch stärkere apriorische kognitive Schäden sind möglich, etwa in den Bereichen ADHS, FASD, impulsive Antisozialität oder gestörter Informationsverarbeitung.
Grundsätzlich stellt sich bei kognitiven Auffälligkeiten bei Suchtkranken stets die Frage, ob diese prämorbid bestanden haben, durch den dauerhaften Substanzabusus postmorbid erworben wurden oder ob beides der Fall ist. Insofern ist dies ein Spezialfall des Henne-oder-Ei-Problems.
Im Folgenden werden die besonders wichtigen kognitiven Prozesse im Suchtkontext beschrieben.
Aufmerksamkeitslenkung (attention bias effect)
Im Verlaufe der Entstehung einer Suchterkrankung entwickelt sich eine Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsbevorzugung für substanzbezogene Reize. Dies kann sich etwa darin zeigen, dass ein Raucher im Alltag, aber besonders in einer Entzugs- oder Verlangensphase, nikotinassoziierte Reize (Zigaretten, Feuerzeug, rauchende Passanten, Tabakwerbung, Kippen auf dem Bürgersteig) bevorzugt oder nahezu ausschließlich wahrnimmt. Diese Aufmerksamkeitslenkung ist der Person im Regelfall nicht bewusst, steuert aber massiv ihr Verhalten.
Dieser Prozess wird auch als Signalerkennungsprozess im Sinne des Klassischen Konditionierens verstanden. Er bezieht sich auf die sensorischen Aspekte der Substanz und der substanzassoziierten Reize, wie Umgebung, Gebrauchsutensilien und andere konsumassoziierte Reize. Es werden also im Einzelfall zahlreiche bis unüberschaubar viele implizite Assoziationen in sich wiederholenden Konsumsituationen gestiftet.
Die klassisch konditionieren Reize können nach Etablierung des Aufmerksamkeitslenkungseffekts Substanzverlangen (craving) und im Einzelfall auch Entzugsphänomene auslösen. Der Aufmerksamkeitslenkungseffekt ist außerdem eng mit den jeweils folgenden verstärkenden Substanzeffekten verbunden, so dass einzelne klassisch konditionierte Reize auch – ganz im Sinne des Klassischen Konditionierens – konditionierte Substanzwirkungen ohne reale Substanzeinnahme in geringerem Umfang auslösen können.
Selbst die Größe und Wichtigkeit der konsumassoziierten Reize verändert sich
Die Aufmerksamkeitslenkung verändert aber auch die Wahrnehmung selbst. Alkohol- und drogenassoziierte Reize werden schneller und sogar größer – und damit am Ende auch als wichtiger – wahrgenommen als andere, neutrale Reize. Dieser Effekt wird als Salienz bezeichnet, die Stärke eines Reizes im Verhältnis zu anderen.
Die Aufmerksamkeitslenkung sorgt für schnellere, automatisierte Konsumentscheidungsprozesse, was dann in der Therapie wieder rückgeprägt werden sollte. Eine Verlangsamung und Bewusstmachung dieser Abläufe im Rahmen achtsamkeitsfördernder Therapieprozesse kann dem Suchtkranken helfen, sich selbst vor dem Hintergrund der erlernten, automatisierten Prozesse besser zu verstehen.
Alkoholinduzierte Kurzsichtigkeit
Unter diesem Konzept („alcoholic myopia“) veröffentlichten die amerikanischen Psychologen Steele & Josephs (1990) die inzwischen schon klassische Theorie der alkoholinduzierten Kurzsichtigkeit. Der Begriff der Kurzsichtigkeit wird hierbei auf den Aufmerksamkeitsprozess bezogen und besagt, dass unter akutem Alkoholeinfluss Personen sich nur noch auf weniger Stimuli, nämlich die zentralen, fokussieren können und entsprechend andere Gedächtnisinhalte späterhin aufweisen. Es handelt sich also um einen Fokussierungseffekt, der gerne auch mit dem schon erwähnten Begriff der Salienz bezeichnet wird. Ein salienter Reiz ist ein solcher, der durch Signal- und Erfahrungslernen eine hervorgehobene Wichtigkeit und Bedeutung erlangt. Das Aufmerksamkeitssystem reagiert schneller und intensiver auf solche gelernten Reize und wird neurobiologisch intensiver zu ihnen hingelenkt. Es handelt sich um eine dopaminerg begleitete Reaktion.
Die subjektive Wahrnehmungswelt unter Substanzen ist andersartig
Das „alcoholic myopia“ – Modell ist also eine andere Anwendung des Aufmerksamkeitslenkungsmodells und besagt, dass unter akutem Alkoholeinfluss die Aufmerksamkeitskapazität eingeschränkt ist und sich das Wahrnehmungsorgan im Sinne der Sparsamkeit des Informationsverarbeitungsprozesses auf weniger, hervorstechende, besonders markante Items fokussiert.
Die kognitiven Hemmungseffekte in Bezug auf die Wahrnehmungsprozesse betreffen alle denkbaren Bereiche der Wahrnehmung: Objektwahrnehmung, Soziale Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Spannend für die Suchttherapie sind vor allem die Myopia-Effekte in Bezug auf die Selbstwahrnehmung:
(1) Unter Alkohol- und Drogeneinfluss fühlen sich die meisten Menschen besser in Bezug auf sich selbst.
Dies liegt vor allem daran, dass durch die Aufmerksamkeitsfokussierung alle aktuellen selbstbezogenen Wahrnehmungen reduziert werden, so dass das Individuum direkter mit seinem Ideal-Selbst in Kontakt ist. Dies ist ein zunächst angenehmer Effekt, der selbstverstärkend nach Wiederholung strebt. Es handelt sich um eine langfristig dysfunktionale Form der Selbst-Aktualisierung.
(2) Starke Sorgen und Nöte, auf die sich Menschen fokussieren, können unter Alkoholeinfluss in geringen Dosen jedoch auch stärker werden,
da sie sich nicht mehr peripher, sondern zentral im Wahrnehmungsfeld des Individuums befinden. Dies führt zu Depressivität und Resignation, kann jedoch mit noch stärkerer Intoxikation betäubt werden. Ein für die Suchtkrankheit charakteristischer Teufelskreis aus Problemgedanken, negativen Gefühlen und immer mehr Konsum entsteht, der am Ende zu noch mehr negativen Gedanken und Gefühlen führt.
(3) Das Vergnügen im Hier und Jetzt nimmt bei nicht allzu starken Sorgen und Nöten zu.
Menschen vergnügen sich am Konsum und fokussieren sich auf diesen und die angenehmen Gedanken und Gefühle, die damit assoziiert sind. Es fühlt sich wie Achtsamkeit an, ist aber fokussierte Intoxikation.
(4) Die Intoxikation mit Alkohol, Opiaten, Cannabis, Stimulantien und anderen Substanzen kann sich sogar wahrnehmungserweiternd anfühlen,
weil die Alltagssorgen und quälenden Kognitionen gehemmt und ausgeblendet sind. Das Individuum fühlt sich freier, bisweilen auch kreativer. Besonders Schriftsteller und andere Kreative schätzen diesen Effekt, wissen späterhin aber auch um seine Begleitprobleme, wie es etwa Ernest Hemmingway erlebte. Es handelt sich um einen Scheineffekt, der mit dem Nachlassen der Substanzwirkung endet und sich oft ins dysphorische Gegenteil verkehrt.
[Steele, C. M., and Josephs, R. A. (1990). Alcohol myopia: its prized and dangerous effects. American Psychology, 45, 921–933. Giancola, P. R., Josephs, R. A., Parrott, D. J., & Duke, A. A. (2010). Alcohol myopia revisited: Clarifying aggression and other acts of disinhibition through a distorted lens. Perspectives on Psychological Science, 5, 265–278.]
Die Andersartigkeit der subjektiven Wahrnehmungswelt unter Substanzeinfluss ist in der Suchttherapie von großer Bedeutung. Es gilt, diese empathisch zu erfassen, ihre funktionale Bedeutung zu verstehen und die entstandenen Konditionierungen unter die Lupe zu nehmen.
Metakognitive Einschränkungen
Aber nicht nur die Wahrnehmung von Reizen der Innen- und Außenwelt verändert sich unter Intoxikation, sondern die Selbstbeobachtung und –regulation. Dieser „self-monitoring“-Effekt bezieht sich darauf, dass die Selbstwahrnehmung eingeschränkt ist, sich auf erwünschte Reize konzentriert und auch Erinnerungen verzerrt abgerufen werden. Dauerhaft führt dies zu einem Kreislauf der verzerrten Selbstbeobachtung, der als angenehm erlebt wird und nach Wiederholung fordert, weil aversive Reize und negative Emotionen reduziert werden. Ebenso werden konsum- und rückfallrelevante Reize unterdrückt oder verzerrt wahrgenommen. Entscheidend ist auch hier eine Wiederannäherung an ein umfassenderes self-monitoring ohne Moralisierung und Schuldzuweisung.
Hemmung der Hemmung
Ein zweiter relevanter Prozess bei akuter Alkoholintoxikation ist die Hemmung von Hemmungsfunktionen. Dieser Effekt, genauer die Beeinträchtigung der Kontrollfunktionen in Bezug auf Verhalten („impairment of inhibitory control“), betrifft den Verlust der Hemmung einer motorischen Reaktion, die schon initiiert wurde. Etwa der Griff nach einer Flasche Alkohol. Insofern betrifft es die Regulation exekutiver Funktionen nach einem Substanzkonsum.
Nun zur Intervention: Offenes Sprechen über den Konsum wichtig
Um die beschriebenen Prozesse der Abwehr, Dissonanzreduktion, Aufmerksamkeitslenkung und Gedankenautomatisierung rückgängig zu machen, sind meist ein intensiver Realitätsprüfungsprozess, eine Selbstreflexion mit dem Ziel der Motivationssteigerung und schließlich übendes Handeln nötig. Im Einzelnen:
(1) Der Veränderungsprozess umfasst die Rückabwicklung der dysfunktionalen Kognitionen und die Entwicklung
und dauerhafte Etablierung neuer, funktionaler und realistischer Kognitionen. Bei der Schwierigkeit, sich zu seinen Konsumproblemen zu bekennen, ist daher die Offenheit vor sich selbst beim Sprechen über den Konsum ein wichtiger Weg zur Lösung der Suchtprobleme. Über Selbstreflexion, Akzeptanz und Selbsterkenntnis kann es gelingen, das wahre Ausmaß der eigenen Probleme zu erkennen und sich für Veränderungen zu motivieren. Aber, wie aus therapeutischer Erfahrung und Suchtforschung bekannt ist, ist der Weg dorthin weit und es dauert oft lang.
Leider sorgen die rigiden Vorgaben in unserem deutschen Versorgungssystem zusätzlich immer noch dafür, dass dieser Weg oft nicht gelingt. Betroffene Suchtkranke werden zum Abstinenzwillen gezwungen und lernen dadurch, sich vordergründig anzupassen („compliance“), ohne dass sie intrapsychisch zur Abstinenz bereit sind. Es perfektioniert sich die Fähigkeit zum Schauspiel durch äußerliche Anpassung an die geforderten Aussagen, ohne dass innerlich Bereitschaft vorhanden bzw. herangereift ist. Der amerikanische Suchtforscher William Miller, Begründer des „Motivational Interviewing“, benennt den notwendigen Weg, den „change talk“, die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Veränderungszielen. Dieser ist zyklisch und von Rückfällen geprägt.
(2) Üben, üben, üben
Die Verhaltensweisen, die bei Suchtkrankheit erworben wurden, sind meist – genauso wie die zugrundeliegenden Kognitionen und Emotionsregulationen – automatisiert. In der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) ist von „automatischen Gedanken“ die Rede. Sie laufen blitzschnell und unbewusst ab. Sie zu verändern, rückgängig zu machen, bedarf neben der Bewusstmachung und Achtsamkeit eines längeren Übungsprozesses, z.B. mit Expositionsverfahren, Ablehnungstraining, neurokognitiver Rückprägung usw. Dieser Prozess ist langwierig und erfordert dauerhaftes Üben und Trainieren.
Kognitive Therapie? Ja! Und…
Wenn bei Sucht kognitive Störungen vorliegen, wie sie im Vorangegangenen ausführlich beschrieben wurden, dann liegt die Anwendung kognitiver Therapieverfahren nahe. Dazu gehören vor allem der Sokratische Dialog, die ABC-Disputation der Rational-Emotiven Therapie nach Albert Ellis, die kognitive Dekonstruktion nach Aaron T. Beck und viele weitere, teilweise sehr kleinteilige Methoden. Auch die systemischen Fragetechniken (hypothetisierendes Fragen, Wahrscheinlichkeitsfragen, zirkuläre Fragen) können zusätzlich zum Einsatz kommen.
Ob diese kognitive Verfahren insgesamt die oft sehr chronifizierten kognitiven Abwehrmuster auflösen oder gar ablösen können, ist bei weitem nicht sicher. Sie sollten um weitere, im Einzelfall indizierte Verfahren vor dem Hintergrund einer akzeptierenden, motivationsfördernden Grundhaltung ergänzt werden. In vielen Fällen ist es angezeigt, realitätstherapeutische (Realitätstherapie nach William Glasser; leider etwas aus der Mode gekommen), logotherapeutische (Viktor Frankl) oder spirituell orientierte (der amerikanische Rückfallforscher Alan Marlatt hatte sich damit sehr intensiv beschäftigt) Interventionen anzuwenden. Die Suchterkrankung ist letzten Ende eine tiefe Sinn- und Identitätskrise des Individuums, so dass diese Interventionen sehr hilfreich sein können.
Metakognitive Selbstbetrachtung
Unlängst habe ich in der Therapie mit einem kokainabhängigen Patienten erlebt, zu welch intensiv-exakten Selbstreflexionen er in Bezug auf sein Suchtverhalten fähig war. Er konnte den nahenden Rückfall genau antizipieren, detailliert beschreiben, wie sich seine Gedanken dabei entwickelten und wie er sie selbst manipulierte, so dass er sich den Konsum am Ende blitzschnell und locker erlaubte und sich selbst im Vorfeld schon bezüglich der späteren negativen Folgen beruhigte.
Die diesbezüglichen Prozesse, die in der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) als erlaubniserteilende Gedanken bezeichnet werden, konnte er so genau und analytisch beschreiben, dass er zum ironisch lächelnden und zugleich ohnmächtigen Beobachter seiner selbst wurde. Was ihm bislang fehlte, war ein Akteur, der seine metakognitive Selbstbetrachtung als innere Macht beeinflusste. Er hatte sich unzählige Male bei diesen Abläufen als passiven Zuschauer erlebt. Die aktive metakognitive Steuerung der rückfallanbahnenden Gedanken war aufgrund fehlender Selbststeuerungskompetenzen, ausbleibenden Erfolges und zunehmender Resignation nicht erfolgt. Eine Veränderung des Geschehens muss also motivationale, metakognitive und operante Elemente umfassen.
Prämorbide gestörte Persönlichkeit
Das tiefenpsychologische Modell der Sucht geht von prämorbiden Störungen aus. Dies trifft nach dem Modell auf die Mehrzahl der späteren Suchtkranken zu und bezieht sich vor allem auf Persönlichkeitsmerkmale, die für eine Sucht prädisponieren, besonders (a) Impulsivität, Antisozialität, Hyperaktivität und Frustrationsintoleranz auf der einen und (b) Ängstlichkeit, Depressivität und Ich-Schwäche auf der anderen Seite. Diese Persönlichkeitsmerkmale, die bei stärkerer und vor allem chronischer Ausprägung auch Persönlichkeitsstörungen konstituieren können, stehen in engem Zusammenhang mit den psychologischen Grundprozessen Wahrnehmung, Denken und Informationsverarbeitung.
Schädigungen aufgrund von FASD
Selten erwogen wird die Möglichkeit, dass sich Schädigungen durch pränatalen Alkoholkonsum lebenslang manifestieren können. Diese als Fetale-Alkoholsyndrom-Spektrumstörungen (FASD) bekannte Symptomatik kann erhebliche, dauerhafte Auswirkungen auf exekutive Funktionen zur Folge haben. Dazu gehören vor allem Aufmerksamkeitsdefizite, Gedächtnisprobleme und Regulationsstörungen im Bereich Handlungen und Emotionen. Nach den vorliegenden Prävalenzangaben für FASD (ca. 8.000 Fälle in Deutschland jährlich) können über 500.000 Menschen betroffen sein. Bislang wurde die Störung – wenn überhaupt – auf das Kindes- und Jugendalter bezogen. Da FASD aber von der Grundsymptomatik irreversibel ist, sind auch schätzungsweise mindestens 350.000 Menschen im Erwachsenenalter betroffen (vgl. Becker et al., 2019). Dies ist bislang wenig berücksichtigt worden und führt zu einer grundsätzlich anderen Betrachtung und Interpretation vielerlei Regulationsstörungsprobleme suchtaffiner und suchtkranker Menschen. Bei einer explorativen Studie in Einrichtungen der Suchttherapie zeigte sich, dass bis zu 20% der dort Behandelten von FASD im Erwachsenenalter betroffen sein könnten.
Neben den akuten Folgen einer Alkohol- oder Drogenintoxikation sind die Langzeitfolgen mit ihren Auswirkungen auf kognitive Funktionen zu bedenken. Diese Störung wird heute zu den Formen des Amnestischen Syndroms bei Alkoholabhängigkeit gezählt (ICD 10, F10.6).
Und jetzt? Wie geht es weiter?
Für die Forschung sind noch viele Fragen zu klären. Wieso verlaufen die kognitiven Reaktionen bei Suchtmittelkonsum bei verschiedenen Menschen oft sehr anders? Gibt es neben den Persönlichkeitsauffälligkeiten ein spezifisches kognitives Risikoprofil zur Entwicklung einer Suchtstörung? Was sind bei den kognitiven Effekten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Substanzen oder gar zwischen Substanzsüchten und Verhaltenssüchten? Wie hängen die intrapsychischen Prozesse mit der realen Lebenswelt der Betroffenen zusammen? All dies wird weiter erforscht werden müssen. Aber heute ist schon klar, dass den kognitiven Prozessen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht eine starke Rolle zukommt. Suchtkranke sollten in Beratung, Therapie und Selbsthilfe neugieriger auf sich selbst werden oder eben dorthin geführt werden – vor allem durch Psychoedukation oder positive Modelle. Die eigene (und dann die gesamte) Welt wieder ohne Kurzsichtigkeit und mit umfassenderer Wahrnehmung aufzunehmen, stellt aus psychologisch-mentaler, aber auch aus spiritueller Sicht einen Welt“gewinn“ dar.
Was sie dann entdecken, kann durchaus schmerzhaft sein – womit wiederum die Entstehungsursachen der Sucht berührt sind. Aber es führt auf jeden Fall zu einer tieferen Selbstwahrnehmung. Per aspera ad astra. In diesem lateinischen Satz ist viel zeitlose Wahrheit drin. Und Astra meint hier kein hanseatisches Bier, sondern – viel besser – es sind die Sterne.
Weiterführende Literaturempfehlung:
Verdejo-Garcia, Antonio (Ed.) (2020). Cognition and Addiction. A Researcher´s Guide From Mechanisms Towards Interventions. London: Academic Press.