„Wann ist das mit Corona endlich vorbei? Ich halte das nicht mehr lange aus“, sagte letztens ein Suchttherapie-Patient zu Beginn einer Therapiesitzung zu mir. Hier das Hintergrundwissen zur Bewältigung der Dauerkrise.
Inhaltsübersicht
Die Corona-Dauerkrise wird immer mehr zum Thema für Suchtkranke und -gefährdete
Immer mehr Menschen berichten, dass Kraft und Hoffnung in der pandemischen Dauerkrise bei ihnen schwinden und sie unter Einsamkeit und Schwermütigkeit leiden. Gerade für Suchtkranke und -gefährdete, die sich in solchen Situationen oft zurückziehen und isolieren, stellt die nicht enden wollende Pandemie eine starke Herausforderung dar. Und jetzt im Winter 2021 steigen die Infektionszahlen in unbekannte Höhen. Wie können Menschen mit dieser Situation umgehen und dabei ihre psychische Gesundheit bewahren? Für Kinder und Jugendliche erscheint die Lage besonders schwierig, da sie noch nicht so viel Gelegenheit hatten, in Stresssituationen Bewältigungserfahrungen zu sammeln.
Doch es gibt Möglichkeiten, auch mit Dauerstress umzugehen und solche Phasen zu überwinden. Die dazu geeignete Fähigkeit zur Bewältigung von Dauerstress wird als Resilienz, die Fähigkeit zur psychischen Stressresistenz bezeichnet. Dort, wo es Menschen nicht alleine schaffen, sollten sie die nötige Unterstützung zur Resilienz durch andere (Freunde, Verwandte, aber auch Fachkräfte) bekommen. Wichtig ist oft, diese Hilfe und Unterstützung aktiv zu suchen und auch zu erbitten.
Der Dauerkrise mit mehr Resilienz begegnen
Schon lange ist bekannt, dass manche Menschen Krisen- und Notsituationen gut widerstehen können, dabei gesund bleiben oder sogar an Kompetenz und Ressourcen wachsen, während andere daran zerbrechen, depressiv werden oder sich mit Alkohol und Drogen betäuben. Oft konnten Krisen und Notzeiten nur überstanden werden, wenn die Menschen noch „eine Schippe“ drauflegten, an Widerstandswillen, Energie, Überlebenswillen. Darum geht es jetzt wieder. Und wenn Krisen länger andauern, werden sie zum Dauerstress mit umfassenden negativen Auswirkungen auf Körper und Psyche.
All dies hat natürlich viel mit der Psychologie des Menschen zu tun, den intrapsychischen, organismischen Abläufen zu tun. Die nötige Überwindung von Langzeitkrisen gelingt nur als koordinierte Anstrengung von Geist, Seele und Körper. Natürlich spielt vielfach dabei auch die spirituelle Energie – das Sinnfinden im Leben in extremen Zeiten, worin auch immer dieser besteht – eine gewichtige und entscheidende Rolle. Gerade für Suchtkranke kann die Spiritualität im Leben eine besondere Rolle spielen, um sinnerfüllt den Rückfallgefahren zu begegnen.
In der Psychologie wird die Fähigkeit imUmgang mit Dauerstress als Resilienz bezeichnet und bedeutet psychische Widerstandsfähigkeit in Krisen- und Stresssituationen. Gerade jetzt im zweiten Corona-Winter (2021/22) und beim Entstehen immer neuer Virusvarianten ohne absehbares Ende, spielen resiliente Fähigkeiten, deren Bewahrung und Ausbau eine besonders wichtige Rolle für Suchtkranke und -gefährdete. Da drei Viertel aller Suchtkranken Männer sind, können Sie hier auch speziell Corona-Bewältigungstipps für Männer lesen: „Die Corona-Dauerkrise bewältigen mit Resilienz im Alltag – Gerade für Männer eine echte Herausforderung“.
In Krisen hilft die Erfahrung des Überlebens und Wachsens trotz Stress
Bei der biologischen Evolution waren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit immer entscheidend zum Überleben der Arten. Menschen können unter widrigen Lebensumständen über sich selbst hinauswachsen. Alle Lebewesen müssen sich verändernden Umweltbedingungen anpassen lernen. Und manchmal muss das ganz schnell gehen, wie derzeit gerade in der Corona-Krise, da eine solche Pandemie in unseren Breiten schon lange nicht mehr aufgetreten ist. Die Krise aktiviert in vielen Menschen ungeahnte Kräfte und Energien und erhält ihre psychische Gesundheit oder stärkt sie sogar noch, wenn genügend Stressresistenz vorhanden ist. Andere verzweifeln oder zerbrechen auch daran. Manche flüchten sich in vermeintliche Wahrheiten und Selbstbetäubungsrituale, die bei einigermaßen vernünftiger Betrachtung doch nur Irrlehren und Selbstbetrug sind. Viele Menschen jedoch entwickeln in solchen Krisen, seien sie gesellschaftlich, kulturell oder familiär, bislang ungeahnte Fähigkeiten und Lösungen.
Die Stressforschung hat geholfen, den Umgang mit Krisen besser zu verstehen
Wenn starker psychischer Stress auf Menschen einwirkt, aktiviert dies das biologisch schon alte System zur Reaktion auf Stress, das Stressachsensystem. Der Mediziner Hans Selye (1907-1982) entwickelte 1936 als Modell der menschlichen Reaktion auf chronische Belastungen das „Allgemeine Anpassungssyndrom“. Dieses Stresssystem, das aus hormonellen und nervlichen Verbindungsbahnen im Körper besteht, bereitet auf Angriff oder Flucht vor, bringt den Organismus also blitzartig in eine optimierte Verfassung zur akuten Stressbewältigung. Die Aktivierung zu Angriff oder Flucht, zieht eine ganze Reihe biologischer, psychischer und sozialer Konsequenzen nach sich, vor allem wenn der Stress über längere Zeit vorherrscht oder gar chronisch besteht.
Dann verliert das System seinen Zweck zur akuten Bewältigung und die Effekte verkehrt sich sogar ins Gegenteil. Die Reaktionen auf solche hoch stresshaften Situationen sind interindividuell sehr unterschiedlich und spiegeln die ganze Bandbreite menschlicher Verhaltensmöglichkeiten wieder. Insofern war schon immer klar, dass nur bestimmte Individuen auf Krisen- und Notsituationen gut angepasst reagieren, wobei selbst die Art einer guten Anpassung je nach Situation und Person variieren kann. Andere Menschen entwickeln in Krisen psychische Probleme, wie Ängste und Depressionen, werden suizidal oder beginnen sich mit Suchtmitteln zu betäuben. Nach Epochen starken Stresses oder gar massenhafter Traumatisierung erfolgt oft eine Rückbesinnung und Analyse der Kräfte, die zum Überleben geholfen haben. In eine solche Epoche treten wir bald ein, die postpandemische Zeit.
Berechtigtes Interesse an der psychischen Widerstandskraft von Menschen
Genau diese Frage, warum Menschen auf Krisen und Stress so unterschiedlich reagieren, haben verschiedene psychologische Forscher im 20. Jahrhundert begonnen systematisch zu erforschen. Dieses Interesse ist nach den Grausamkeiten und Extremtraumatisierungen der Nazi-Zeit und dem 2. Weltkrieg stark angewachsen. Es ging darum zu verstehen, wie Menschen besonders traumatisierende Lebensereignisse und Lebenslagen psychisch gesund überstehen können.
Besonders die Arbeiten von Aron Antonovsky und Emmy Werner sind wichtig, um das Wesen der menschlichen Anpassung in der Krise – vom kurzen Ereignis bis zur chronischen Exposition gegenüber Gewalt – zu verstehen. Während Antonovsky aufgrund seiner zahlreichen Tiefeninterviews mit ehemals in KZs inhaftierten Frauen und später auch anderen Traumaopfern das Konzept der Salutogenese entwickelte, kondensierte Werner aus ihren Daten das Konstrukt der Resilienz, der Fähigkeit einiger Kinder, sich trotz chronischen psychischen Stresses psychisch – zumindest weitgehen – gesund zu entwickeln. Als weitere Forschungstradition, die sich allerdings erst deutlich später herausbildete, ist die Traumatisierungsforschung zu benennen.
Definitionen und Konzepte von Resilienz
Die Forschungen von Emmy Werner und in der Folge vieler anderer Wissenschaftler haben sich im Wesentlichen darauf fokussiert herauszufinden, wie Resilienz als Widerstandsfähigkeit gegen starken psychischen Stress entsteht und funktioniert. Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen zu bewältigen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen.
Zunächst kristallisierte sich in den Arbeiten von Werner als Ergebnis wiederholter Befragungen der exponierten Kinder heraus, dass es bestimmte intrapsychische Fähigkeiten waren, die sie besonders resilient machen. Dazu gehörten ein gutes Selbstwertgefühl, eine mindestens durchschnittliche Intelligenz, die Fähigkeit sich selbst zu steuern und zu helfen. Die Kinder, die diese Eigenschaften hatten, konnten besser mit dem Dauerstress in Familien mit Sucht und Gewalt umgehen und blieben häufiger psychisch gesund. Hinzu kam, dass eine liebevolle, bedingungslos akzeptierende, stabil zugewandte Bezugsperson, auf Hawaii häufig die Lehrerinnen, für eine stabile psychische Gesundheit trotz der dauerhaften Widrigkeiten im Leben der Kinder sorgte.
In der Folge wurden zahlreiche weitere Resilienzstudien, insbesondere mit Kindern in benachteiligten und traumatisierenden Umwelten, durchgeführt. Seit den späten 1980-er Jahren wurden solche Studien auch in Deutschland durchgeführt, z.B. die Mannheimer Heimkinderstudie. Es zeigte sich wiederholt, dass meist ein Viertel bis ein Drittel der chronisch exponierten Kinder eine so starke Resilienz aufwies, dass sie keine psychischen oder anderweitigen Beeinträchtigungen davontrugen. Außerdem wurde eruiert, dass Resilienz überwiegend trainierbar ist, also gesteigert werden, sich aber auch im Laufe des Lebens abschwächen kann. Im Mittelpunkt der Forschung stand nunmehr die gesunde, langfristige Entwicklung trotz anhaltendem, hohem Stress. Auch die beständige Kompetenz unter akuten Stressbedingungen wurde zunehmend zum Forschungsgegenstand.
Diese beiden Szenarien entsprechen den von Prof. Klaus A. Schneewind für die Familienpsychologie postulierten Familienstresskonstellationen, dem Toleranzstress und dem Katastrophenstress. Ersterer fokussiert auf die Dauerexposition gegenüber hohem Stress, letzter bezeichnet die Exposition gegenüber einem unerwarteten starken negativen Ereignis. Auch die schnelle Erholung von einem Trauma ist ein Zeichen hoher Resilienz. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse (2019, 13) definieren Resilienz als einen dynamischen oder kompensatorischen „Prozess positiver Anpassung bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen und dem Auftreten von Belastungsfaktoren. Charakteristisch für Resilienz sind außerdem ihre variable Größe, das situationsspezifische Auftreten und die damit verbundene Multidimensionalität“. Gerade Suchtkranke sollten aktiv an ihrer Resilienz im Alltag arbeiten, um Rückfällen vorzubeugen und sich in der psychischen Gesundheit zu stärken.
Resilienzfaktoren bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Wenn es gilt, Resilienz im Entwicklungsverlauf oder in Krisen zu fördern, spielen konkret benennbare und damit konzipierbare Resilienzfaktoren eine entscheidende Rolle. Viele Resilienzförderprogramme sind heutzutage auf der Basis grundlegender Resilienzfaktoren entwickelt worden. Gerade in der jetzigen Corona-Krise, deren Ende noch nicht abzusehen ist, gilt es, die Resilienz aller Menschen –Kinder zumal – zu stärken, die der besonders vulnerablen jedoch besonders im Fokus zu behalten. Besonders resiliente Kinder und Erwachsene weisen die folgenden sieben Resilienzen in hohem Maße auf, so dass sie bei weniger resilienten Personen gefördert und gestärkt werden sollten (vgl. Wolin & Wolin, 1995; Klein et al., 2013). Dies macht in Zeiten der Dauerkrise für alle vulnerablen Kinder und Jugendlichen besonderen Sinn:
(1) Kognitionen
Von der Ahnung über das Wissen zur Erkenntnis. Es hilft Menschen, Stress und Krisen zu widerstehen, wenn sie verstehen, was mit ihnen passiert. Bei Kindern beginnt es oft mit einer Ahnung, dass etwas nicht stimmt, bis sie altersentsprechend Wissen über ihre Umwelt erwerben und ausweiten können, um schließlich zu erkennen, was schief läuft in Familie und Gesellschaft. Dazu gehört: Verstehen, was mit mir passiert. Durchschauen, welche Probleme die anderen haben und wie sie damit (richtig oder fehlerhaft) umgehen. Von der Ahnung (hier stimmt was nicht), zum Wissen (was ich tun muss, damit es mir besser geht) zur Einsicht (in meiner Familie gibt es ein Problem, das ich alleine nicht lösen kann). So kann ich durch meine Gewissheit, dass ich verstehe, was los ist, trotz Krise, Gewalt und Dauerstress wenigstens etwas positives Denken bewahren und dies im Leben ausbauen.
(2) Emotionen
Hier geht es darum, sich von negativen, übertriebenen oder unrealistischen Emotionen zu schützen. Vor allem ist es wichtig, sich von Stimmungen und negativen Emotionen, mit denen andere manipuliert werden (sollen), frei zu machen, sich von ihnen zu distanzieren und etwas Eigenes entgegenzusetzen. Eine depressive Mutter etwa wird die Gefühle ihres Kindes auf Dauer mit ihrem negativen Weltbild nachhaltig beeinflussen, im Extrem vergiften. Dies abzuwehren und die eigenen Emotionen von denen eines negativen Vorbildes abzutrennen, wirkt sich resilient aus. Eine gute Emotionsregulation schützt vor psychischen Dysbalancen und Störungen.
(3) Beziehungen
Menschen können durch Beziehungen ihre psychische Widerstandskraft stärken und ausbauen, wenn in diesen Beziehungen positive Werte und vor allem Bestätigung und Akzeptanz vermittelt werden. Dafür ist natürlich die Kindheit eine besonders wichtige Phase. Beziehungen können durch wertvolle akzeptierende Erfahrungen eine wichtige Säule der Resilienz werden. Als Resilienzfaktor zählt natürlich im Kern die dann entstehende Beziehungsfähigkeit, sich nämlich positive, wertschätzende und gesundheitsförderliche Beziehungen beschaffen und erhalten zu können. Im Erwachsenenalter sind Freundeskreise und Vertrauenspersonen von besonderer Wichtigkeit für Resilienz. Für Suchtkranke können dies auch die Menschen in der Suchtselbsthilfe sein.
(4) Initiative
Initiativ werden heißt, das Leben in die eigene Hand nehmen und die Selbstwirksamkeit erhöhen. In vielen Resilienzstudien zeigte sich, dass das Engagement in sozialen sportlichen und kulturellen Aktivitäten die Widerstandfähigkeit gegen chronisch widrige Familien- und Lebensumstände stärkte. Für Kinder in benachteiligten oder psychisch dysfunktionalen Kontexten kann dies bedeuten, dass das Engagement im Fußballverein, bei der Jugendfeuerwehr oder im Chor zu der Erhöhung dieses Resilienzfaktors führt.
(5) Kreativität
Die intensive Erfahrung grenzüberschreitender Tätigkeiten, wie dies besonders beim Musizieren, künstlerischem Schaffen, Schreiben usw. geschieht, ist ein weiterer wichtiger Baustein zur psychischen Widerstandsfähigkeit. Hier ist es besonders die Fähigkeit, sich durch das Erfinden neuer Sichtweisen und die Distanzierung vom grüblerischen Alltagsdenken und –empfinden zu erleichtern, die bei der Entwicklung von psychischer Stressresistenz hilft.
(6) Humor
Schon lange sind die heilenden und gesundheitsförderlichen Funktionen des Humors bekannt. Diese beziehen sich besonders auf selbstbezogenen Humor, die Fähigkeit über sich selbst in humorvoller Art und Weise zu denken und zu empfinden. Dies ist ein Anzeichen für die Fähigkeit, sich vom eigenen Leid und Stress distanzieren und aus einer metakognitiven sich selbst betrachten zu können. Dies umfasst verschiedene Humorformeng, zu denen auf Ironie, Sarkasmus und „schwarzer Humor“ gehören.
(7) Moral
Ein stabiles Wertesystem ist wichtig, um fundierte Entscheidungen im Leben zu treffen, die man später nicht bereuen muss. Die bezieht sich vor allem auf Fragen des Verhaltens im Umgang mit ethischen Grenzfällen. Drogenkonsum, Betrug, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Treue sind einige der Themen, die in diesem Zusammenhang relevant werden können. Menschen mit einem klaren Wertesystem können auch in Krisen- und Stresssituationen eher Kurs halten und gut für sich selbst sorgen.
Diese sieben Resilienz-Faktoren wurden durch Interviews mit Kinder suchtkranker Eltern erhoben. Sie sind die Basis vieler Präventions- und Interventionsprogramme.
Ein alternatives Resilienzfaktorenmodell
Vor einigen Jahren wurden von den Resilienzforschern Reivich & Shatté auf der Basis ihrer Analysen sieben zentrale Resilienzfaktoren postuliert. Die Herleitung dieser Resilienzfaktoren bleibt empirisch unklar, dennoch liefern auch sie einen Beitrag zur praktischen Resilienzförderung. Denn sie weisen eine hohe Alltagsplausibilität und im Übrigen eine hohe Ähnlichkeit zu anderen Resilienzmodellen auf, so dass das Modell hier etwas ausführlicher dargelegt wird.
Die von Reivich & Shatté benannten Resilienzfaktoren sind:
- Emotionssteuerung
- Impulskontrolle
- Kausalanalyse
- Empathie
- Realistischer Optimismus
- Selbstwirksamkeitsüberzeugung
- Zielorientierung
Menschen können diese Resilienzen im Alltag einüben und vertiefen, um gerade gegenüber Dauerstress gewappnet zu sein. Die sieben Resilienzfaktoren werden wie folgt beschrieben:
(1) Emotionssteuerung
Emotionssteuerung beschreibt die Fähigkeit, auch unter hohem, dauerhaftem Druck Ruhe zu bewahren und die Kontrolle über aufkommende Emotionen zu behalten. Menschen mit guter Emotionsregulation nehmen ihre Gefühle bewusster und achtsamer wahr als andere, erkennen diese klarer und können sie weitgehend steuern und erfolgreich regulieren. Meist geschieht das automatisch durch internalisierte Strategien. Ihnen gelingt diese Bewältigung im Sinne von Regulation auch in Situationen großer persönlicher Herausforderungen oder schwerer Rückschläge. Ihre Leistungsfähigkeit und Handlungskompetenz wird dementsprechend nur wenig durch ihre Emotionen beeinträchtigt. Wenn Probleme mit der Regulierung negativer Emotionen (wie Wut, Ärger, Zorn, Trauer, Angst) bestehen, ist die Einübung und das Training emotionaler Bewältigungsstrategien besonders wichtig. Dies ist bei Suchtstörungen nahezu regelhaft der Fall.
(2) Impulskontrolle
Menschen mit hoher Impulskontrolle verfügen über erfolgreiche Strategien, um Ziele zu erreichen, planen ihre Verhaltensweisen vorausschauend, folgen nicht sofort neuen Impulsen und geben in der Regel bei Frustration seltener auf. Sie bringen Vorhaben in der Regel zu Ende und erreichen dadurch eine große Zufriedenheit. Sie sind also vor allem selbstkontrolliert und diszipliniert. Bei der Arbeit oder in relevanten Beziehungen können sich Menschen mit hoher Impulskontrolle über einen längeren Zeitraum besser konzentrieren und lassen sich weniger leicht ablenken. Bei vielen – vor allem männlichen – Suchtkranken bestehen Probleme hinsichtlich der Impulskontrolle, so dass hier ein intensives Training zur Erhöhung der Resilienz angezeigt ist.
(3) Kausalanalyse
Kausalanalyse beschreibt die Bereitschaft, ein Problem zeitlich und inhaltlich gründlich und zutreffend zu analysieren und sich dadurch erklären zu können. Menschen haben alle das Streben nach schnellen, plausibel erscheinenden Kausalattributionen in dem Sinne, das Verhalten anderer wie auch das eigene plausible zu erklären. Vielfach werden dabei jedoch falsche und voreilige Schlussfolgerungen gezogen. Die genaue Kausalanalyse hilft Menschen dabei, begangene Fehler nicht zu wiederholen und verhindert, dass sie zu früh aufgeben. Gründe für Erfolge und Misserfolge werden bei der Kausalanalyse gründlich und selbstreflexiv eingeschätzt. Das schont im Weiteren personale und zeitliche Ressourcen. Im Gegensatz dazu neigen wenig resiliente Menschen dazu, für Misserfolge und Rückschläge sich selbst die Schuld zu geben und Erfolge nur glücklichen Umständen oder dem Zufall zuzurechnen.
(4) Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, dass wir durch unser eigenes Handeln Dinge beeinflussen und in gewünschter Weise verändern können. Menschen mit hoher Selbstwirksamkeit bauen dann zu Recht die Erwartung auf, dass sie den Lauf der für sie wichtigen Dinge gezielt beeinflussen können und wissen aus Erfahrung, wie dies gelingt. Entsprechend aktiv engagieren sie sich, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Sie bevorzugen solche Aufgaben, die sie herausfordern, auch wenn dies erst einmal mit einer erhöhten Anspannung verbunden ist. Sie wachsen also mit ihren Erfahrungen und Aufgaben. Für Suchtkranke ist das Erleben ihrer Selbstwirksamkeit wichtig, um die eigene Handlungskompetenz zu stärken und Rückfallrisiken erfolgreich zu bestehen.
(5) Realistischer Optimismus
Realistischer Optimismus beschreibt die Überzeugung, dass sich Dinge zum Guten wenden können und werden. Dies speist sich überwiegend aus inneren Überzeugungen, Weltbildern und Persönlichkeitsmerkmalen. Wichtig ist dabei, dass der Optimismus in Einklang mit der Realität und den zu erreichenden Erfolgen bleibt. Er beschreibt außerdem die Fähigkeit, auch in sehr schwierigen Situationen eine Sinnhaftigkeit und etwas Positives, also eine Herausforderung, zu sehen und zu entdecken: Das Glas ist in der Regel halb voll und nicht halb leer, wäre ein typisches Ausdruck des realistischen Optimismus. Realistisch optimistische Menschen zeigen vor dem Hintergrund einer erworbenen Gelassenheit auch viel Nachsicht und Toleranz mit ihren Mitmenschen. Adäquat optimistische Menschen schätzen die Realität zutreffend und auch durchaus kritisch ein, sind also nicht übertrieben und maßlos optimistisch. Denn unrealistischer Optimismus führt dazu, dass Risiken und Erfolgsaussichten falsch eingeschätzt werden und führt somit zu falschen Entscheidungen und Handlungen.
(6) Empathie
Empathie beschreibt die Fähigkeit, sich auf der Basis von beobachtetem Verhalten und emotionalen Reaktionen in die psychische und emotionale Lage eines anderen Menschen zu versetzen. Empathische Menschen können gut nachfühlen, was andere Menschen in entsprechenden Situationen fühlen und interessieren sich für das Erleben anderer. Vielen fällt dies leichter, wenn sie schon einmal eine vergleichbare Situation wie ihr Gegenüber erlebt haben. Empathie hilft uns in der Folge, mehr Verständnis für unser Gegenüber aufzubringen und uns auf diese einzustellen, indem wir auf der Basis der wahrgenommenen Emotionen ihr Verhalten besser vorhersagen können. Empathie setzt komplexe Wahrnehmungsfähigkeiten („theory of mind“) voraus und führt zu einem gelingenderem Interaktionsverhalten. Suchtkranke sollten ihre Empathie für nahestehende Personen (Partner, Kinder, Eltern) immer wieder hinterfragen und im Zweifelsfalle üben und verstärken.
(7) Zielorientierung
Dieser siebte und letzte Resilienzfaktor wird von Reivich und Shatté als „Reaching-Out“-Faktor bezeichnet und wird auf Deutsch mit „Zielorientierung“ nur unzureichend übersetzt. Gemeint ist damit das Ausmaß, in dem ein Mensch sich gerne für neue Ziele einsetzt und diese anschließend auch verfolgt und umsetzt. Menschen mit hohen Werten auf dem Faktor Zielorientierung sind gut in der Generierung und Erreichung passender Ziele für die in ihrem Leben relevanten Themen und Probleme und finden mit ihrer Beharrlichkeit dann auch die richtigen Lösungen und erreichen ihre Ziele. Um diese dann Ziele zu erreichen, gehen sie die notwendigen Schritte voller Selbstbewusstsein, Gelassenheit und Konsequenz an. Entscheidend ist dabei auch, dass sie sich die Ziele selbst stecken. Das unterscheidet sie von getriebenen, fremdbestimmten Menschen. Dies führt zu einer überwiegend selbstbestimmten, autonomen Identität.
Auch Systeme brauchen Resilienzen: Paare, Familien, Städte, Staaten, Kulturen
Nicht nur Individuen können Resilienzen entwickeln, auch größere Systeme wie Paare, Familien, Stadtteile und auch ganze Völker und Staaten. Zum längerfristigen Überleben brauchen eben auch Systeme wie Staaten und Kulturen die Fähigkeit, sich bei Stress und Krisen flexibel anzupassen. Dies gilt natürlich besonders für Krisenzeiten wie die jetzige Epoche. Wichtig sind dann Fähigkeiten wie gewaltfreie Kommunikation, Toleranz, Klarheit, Offenheit, Diskursfähigkeit und Konfliktfähigkeit.
Was braucht es aber dafür, dass Systeme Resilienzen entwickeln? Auch ehemals resiliente Systeme, wie große Reiche und bedeutende Staaten und Gesellschaftsmodelle, können ihre Widerstandsfähigkeiten verlieren. Aber schauen wir uns das Phänomen der Systemresilienz am Beispiel der Familie an.
Familienresilienz
Nicht nur Individuen können Resilienz aufbauen und stärken, auch Familien und andere Systeme können ihre Resilienz stärken und entwickeln. Dieser Aspekt stand in der psychologischen Resilienzforschung lange im Hintergrund und findet erst seit einigen Jahren Beachtung. Das Konzept der Familienresilienz wurde Anfang der 2000-er Jahre von Froma Walsh, einer amerikanischen Psychologin, begründet und fokussiert auf die Möglichkeit, dass sich ganze Familien oder familiale Subsysteme (z.B. Geschwister, Mütter und Kinder, Großeltern und Enkel) resilient entwickeln. Noch sind die Forschungserträge zum Thema „Familienresilienz“ vergleichsweise gering.
Es werden vor allem drei Familienresilienzfaktoren angenommen: (1) Sinngebende Glaubenssysteme, (2) Flexible, adaptive Organisationsmuster und (3) offene, klare und partizipative Kommunikationsstrukturen. In Situationen der Dauerkrise, wie derzeit durch die Corona-Pandemie bedingt, heißt dies für Familien, dass offen und transparent über die Situation gesprochen, sie Kindern altersgerecht erklärt und alle sich aktiv in die veränderten Abläufe der Familie mit gegenseitiger Unterstützung begeben sollten. Auch das Wissen um die Endlichkeit solcher Krisen kann der Familie bei der Bewältigung helfen, auch und gerade wenn sie in zwei Jahren nicht vorüber sein wird. In suchtbelasteten Familien kommt hinzu, dass offen über das bestehende Problem gesprochen und gehandelt werden sollte, um Partnern und Kindern die Chance des Verstehens und der Anpassung zu geben.
Resilienz als zentraler Faktor in der Bewältigung der Corona-Krise
Die Widerstandsfähigkeit gegen die derzeitige und noch weiter andauernde Corona-Pandemie variiert interindividuell stark nach allem, was derzeit bekannt ist. Dies hängt nicht so sehr von Merkmalen wie Geschlecht und Alter ab, sondern eher von Persönlichkeit, Einstellungen und Haltungen. Die Durchhaltefähigkeit in Bezug auf die Einschränkungen im Alltag wird zunehmend zur Herausforderung und zum Alltagsproblem. Auch dies erfordert ein hohes Maß an Resilienzen. Menschen verhalten sich in der Corona-Krise wie in allen existentiellen Krisen, seien diese nun im sozialen Nahraum (Partnerschaft, Familie) oder in der Gesellschaft als Ganzes. Wichtig sind Stresstoleranz, Flexibilität und Fähigkeiten zur aktiven Bewältigung der Umweltanforderungen.
Die tieferliegenden Persönlichkeitsmerkmale und Stressreaktionsmuster der Menschen werden in diesen Krisen offenkundig. Wie oft zitiert wird, bringt die Krise das „wahre“ Gesicht der Menschen zum Vorschein. Aus der Resilienzforschung können viele Schlussfolgerungen zur Bewältigung der jetzigen Dauerkrise gezogen werden. Die jahrelange Beschäftigung der Resilienzforschung mit Individuen und Systemen in der Krise und unter hohem Alltagsstress, wie dies bei suchtbelasteten Familien meist der Fall ist, nutzt nun auch bei der Bewältigung der Corona-Krise. Die meisten Resilienzexperten empfehlen folgende Konsequenzen:
Emotionsregulation, Impulskontrolle, Kausalanalyse, Empathie, realistischer Optimismus und Zielorientierung sind wichtige Kompetenzen der heutigen Zeit genauso wie Humor, Kreativität Autonomie und Initiative. All dies sind Beiträge zur einer gelingenden resilienten Krisenbewältigung.
Es ist denkbar, dass die Kinder der Generation Corona resilienter werden als die vorherige Generation, weil sie diese Fähigkeiten jetzt erlernen und anwenden müssen. Genauso ist es aber auch möglich, dass sich mehr psychische Schäden in Form von Angst, Depression und Sucht in dieser Generation zeigen werden, wenn nicht genügend Resilienzen rechtzeitig erworben werden konnten. Erst künftige Studien werden dies genau aufdecken können.
Neun psychische Schritte gegen Corona: FACE COVID
Der in Australien lebende britische Arzt und Psychotherapeut Russ Harris (geb. 1966) hat ein neun Punkte umfassendes Programm mit dem Titel „Face Covid“ zur mentalen Bewältigung der Corona-Krise entwickelt. Es beruht auf dem Therapieansatz der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT), die eine besondere Form der Achtsamkeitstherapie darstellt.
Die neun Schritte sind:
(1) F = Fokussierung auf die Dinge, die man kontrollieren und beeinflussen kann. Zudem akzeptieren, dass man nicht alles beeinflussen kann. Dies sorgt für innere Klarheit und mehr Ruhe.
(2) A = Achtung auf die eigenen Gefühle und Gedanken. Auch negative Emotionen und Kognitionen wahrnehmen und zulassen.
(3) C = Comeback in den Körper. Die unter den Phasen F und A gemachten Erfahrungen im Körper aufnehmen. Wo spüren Sie Ihre Gedanken und Gefühle?
(4) E = Engagement im Hier und Jetzt. Achtsamkeit für die Dinge, die gerade da sind. Was sind die fünf Dinge, die sie gerade sehen, hören oder riechen?
(5) C = „Committed Action“: Was können Sie jetzt gerade tun, um für sich selbst oder für andere (Partner, Kinder) die Lebensqualität zu erhöhen? Führen Sie dies aus!
(6) O = Offen sein für sich selbst, auch wenn schwierige Gefühle und Gedanken aufkommen. Begegnen Sie sich selbst und anderen mit diesem Mitgefühl und einer tiefen Freundlichkeit und Herzlichkeit.
(7) V = Values/Werte: Wofür stehe ich? Was sind meine unveränderlichen und unveräußerbaren Werte? Denn Menschen brauchen Werte, gerade in der Krise. Stellen Sie Ihre Werte nicht in die Vitrine, sondern leben Sie sie real, jeden Tag!
(8) I = Identifizieren Sie Ihre Fähigkeiten und Ressourcen, die Ihnen gerade jetzt helfen können: Partner, Freunde, Kinder, Eltern, aber auch Muße zu Hause, Hobbys, Haustiere. Machen Sie sich eine Liste zu Ihren besonders wichtigen Ressourcen.
(9) D = Distanzierung: Halten Sie die Hygiene- und Abstandsregeln ein, solange die Pandemie grassiert, um sich und andere zu schützen!
Wie geht es weiter? Resilienzstabilisierung und –ausbau
Die derzeitigen Verhältnisse in Gesellschaft und Familien stellen dauerhaft hohe Anforderungen an die Bewältigungsfähigkeiten aller, besonders aber der psychisch Schwachen und Kranken. Die Kommunikation über die Corona-Pandemie und ihre Folgen für Gesellschaft und Familie sollte den Erträgen der Resilienzforschung folgen und damit sowohl im kognitiven als auch im emotionalen Bereich die Bewältigungsressourcen stärken. Dies kommt dann wiederum den besonders vulnerablen Personengruppen zu Gute, vor allem Kinder, Jugendliche, Kranke und Gefährdete. Gerade sie brauchen Stärkung ihrer psychischen Ressourcen, z.B. zur Abwehr depressiver Gedanken, Angstgefühlen und Rückfallphantasien bei Sucht und der Tendenz der Selbstaufgabe bei drohender oder eingetretener Arbeitslosigkeit.
Und ja, es stimmt, Menschen halten unheimlich was aus, wie ein Psychotherapiepatient unlängst sagte. Aber damit sie an dem, was sie – vor allem als Kinder – aushalten müssen, nicht zerbrechen und möglichst psychisch gesund bleiben, was bei ihm nicht der Fall war, sollten ihre psychischen Widerstandskräfte frühzeitig und nachhaltig gestärkt werden. Prävention psychischer Störungen, die flächendeckend in unserem Land für Kinder und Jugendliche nicht geschieht, ist keine Luxusleistung des Gesundheits- und Sozialwesens, sondern zwingend notwendig. Wann besonders, wenn nicht jetzt!?! Denn in der Krise zeigen sich die Schwächen des Systems am klarsten. Und eine der größten Schwächen unseres Gesundheitssystems ist die Vernachlässigung der Bedürfnisse von Kindern und die Unterschätzung der mächtigen Rolle des Psychischen.
Abschließend: Konkrete Tipps und Übungen zur Resilienzförderung (nicht nur bei Sucht)
Wenn Sie nun Lust bekommen haben, Ihre Resilienz ganz konkret zu trainieren, folgen hier 13 Tipps für Sie zur Anwendung im Alltag der Corona-Pandemie:
1. Sorgen Sie für Regeln und Rituale im Alltag!
2. Sie können sich jetzt weiterentwickeln.
3. Entspannen Sie sich – oft und tief!
4. Bleiben Sie in Kontakt!
5. Humor hilft!
6. Guter Schlaf ist wichtig.
7. Betreiben Sie Denkhygiene!
8. Seien Sie achtsam!
9. Bleiben Sie beweglich! In jeder Hinsicht.
10. Ihre Gefühle sind wichtig.
11. Spiritualität hilft.
12. Ernähren Sie sich gut!
13. Ein Glücksbringersatz für jeden Tag zum Ende:
Befolgen Sie nie blind Leitsätze! Aber das machen Sie ja sowieso nicht… Machen Sie Ihr eigenes Ding aus dem Programm! Entwickeln Sie die Sätze weiter, reden Sie mir anderen darüber. Lassen Sie sich zusätzliche Tipps von anderen geben! Oder geben anderen Tipps! Mit dem 12-Punkte-Survival-Programm sind Sie auf jeden Fall psychologisch optimal vorbereitet.
Sie brauchen auch nicht jeden Tag alle Sätze zu verfolgen, bauen Sie Ihr Programm langsam und schrittweise auf! Es ist auf jeden Fall besser, sich auf den Weg zu machen zur persönlichen Stärkung als sich von den Dingen ringsherum unterkriegen zu lassen. Gestalten Sie persönliches Wohlergehen und Glück! Gehen Sie es langsam, aber zielstrebig an!
Alle Details unter: „Corona-Lockdown Survival-Tipps für alle, die gut durch die Krise kommen wollen (…)“