Alkohol ist in Deutschland eine frei verfügbare Substanz, die neben Genuss- und Rauschmittelfunktion oft auch als Seelentröster – Alkohol in der Not – genutzt und missbraucht wird. Wird in Zeiten der Corona-Pandemie, verbunden mit Stress, Einsamkeit, Ängsten um die Existenz und Arbeit, mehr oder weniger Alkohol konsumiert? Wie verändert die Pandemie überhaupt den Umgang mit Alkohol und anderen Substanzen? Weltweit sind Hunderte von Studien begonnen oder schon abgeschlossen worden, um dieser Frage nachzugehen. Die meisten sind noch nicht beendet oder liefern kein einheitliches Bild.
Im Kern geht es um die Frage, wie Menschen mit Krisen umgehen und sich in krisenhaften Zeiten im Hinblick auf Substanzkonsum verhalten. „Jeder auf seine ganz persönliche Weise“, lautet zunächst die triviale Antwort. Aber ganz genau so ist es. Die Persönlichkeit, die gelernten Gewohnheiten, automatisierte Kognitionen und der biographisch erworbene Stil im Umgang mit Stress und Krisen einerseits und mit Alkoholkonsum andererseits stellen die wichtigsten Prognosefaktoren für die Pandemiebewältigung dar. „Alkohol ist Dein Sanitäter in der Not, Alkohol ist Dein Fallschirm und Dein Rettungsboot, das Drahtseil, auf dem Du stehst“ heißt es in dem Liedtext „Alkohol“ von Herbert Grönemeyer aus dem Jahr 1984.
Inhaltsübersicht
Europäische Befragung liefert überraschende Antworten
Die Grundlage der folgenden Ausführungen ist eine Online-Umfrage in 21 europäischen Ländern (Manthey et al., 2020). Die Befragung fand zwischen April und Juni 2020 statt. Die Ergebnisse für Deutschland wurden in der Fachzeitschrift SUCHT berichtet. Europaweit haben sich über 40.000 Personen an der Umfrage beteiligt. Den Selbstangaben zufolge haben 68 Prozent der befragten Deutschen die Corona-Pandemie als belastend empfunden. 17 Prozent gaben an, beruflich oder finanziell unter den Auswirkungen der Pandemie zu leiden. Damit stehen die Deutschen aber noch vergleichsweise gut da. Denn in anderen europäischen Ländern gaben 27 Prozent der Menschen an, beruflich oder finanziell negativ durch die Pandemie betroffen zu sein. Da die Angaben sich auf den ersten Lockdown (Frühjahr/Frühsommer 2020), bleibt abzuwarten, wie der zweite, wesentlich längere Lockdown auswirkt. Hier gibt es erste Indikatoren für negativere und tiefergehende psychische Konsequenzen, insbesondere bei Männern.
Wie die europäische Umfrage vom Sommer 2020 weiter zeigt, scheint sich die Corona-Pandemie unterschiedlich auf den Konsum von Alkohol auszuwirken, je nachdem wie belastet sich die Menschen fühlen. Die Überraschung ist jedoch, dass die Ergebnisse europaweit auf einen Rückgang des Alkoholkonsums hindeuten. Dieser Rückgang war in Deutschland aber geringer ausgeprägt als in anderen europäischen Ländern. Dies wird u.a. auch auf die hierzulande recht niedrigen Alkoholpreise im Einzelhandel zurückgeführt. Dadurch können Menschen sich auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten immer noch vergleichsweise viel Alkohol leisten. Andererseits zeigen Erfahrungen aus früheren Epochen (Elendsalkoholismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert) aber auch, dass betroffene Personen – wenn sie erst einmal alkoholabhängig sind – Alkohol auch bei knappen Haushaltsbudgets kaufen und dann eher auf andere Konsumgüter des Alltags verzichten.
Gründe für den Konsumrückgang
Generell wird der Konsumrückgang während des ersten Lockdowns darauf zurückgeführt, dass die Gelegenheiten zum Rauschtrinken rückläufig waren. Wirtshaus- und Kneipenbesuche sowie öffentliche Partys waren im Lockdown verboten, Bars und Clubs sind nun schon über viele Monate geschlossen. 29 Prozent der Deutschen sagen, dass sie sich seit Beginn der Pandemie seltener betrunken hätten. Nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes ist der Pro-Kopf-Bierkonsum im Jahre 2020 auf 95 Liter (nach 99.7 Liter im Jahr zuvor) gesunken.
Weitere Gründe für einen Konsumrückgang bestehen darin, dass soziale Events (Fußballspiele, Konzerte, Festivals, Volksfeste) über Monate nicht stattgefunden haben. Das Trinken von Alkohol, das in unserer Kultur eine wichtige Funktion als soziales Schmiermittel („social lubricant“) besitzt, um damit soziale Kontakte anzubahnen und zu erleichtern, übernimmt in der Corona-Pandemie eine andere Funktion. Es wird immer stärker zum individuellen Seelentröster. Einsames Trinken ist ein Phänomen, das kulturgeschichtlich erst seit etwa 150 Jahren in größerem Umfang bekannt und üblich ist, welches heutzutage immer bedeutsamer werden könnte.
Menschen in sozialer und wirtschaftlicher Not trinken mehr
Etwas anders sah die Lage in der europäischen Studie bei Personen aus, die sich beruflich verschlechtert haben oder finanzielle Einbußen erleiden mussten. Bei ihnen ist der Alkoholkonsum europaweit weniger stark rückläufig gewesen als in der übrigen Bevölkerung. In Deutschland hat der Alkoholkonsum bei Personen, die unter negativen wirtschaftlichen oder finanziellen Folgen leiden, sogar zugenommen. Und das, obwohl ein geringerer Anteil der Bevölkerung in Deutschland sich negativ betroffen fühlte als im Rest Europas. Genau hier könnte die Verbindung aus niedrigen Alkoholpreisen hierzulande, höherer Bereitschaft sich in Not mit Alkohol zu trösten und dem einsamen Trinken zum Tragen kommen.
Wie die Umfrage insgesamt zeigt, scheint sich die Pandemie unterschiedlich auf den Alkoholkonsum auszuwirken, je nachdem wie belastet sich die Menschen fühlen und wo sie leben. So deuten die Ergebnisse europaweit auf einen Rückgang des Alkoholkonsums hin. Dieser Rückgang war in Deutschland aber geringer ausgeprägt als in anderen europäischen Ländern und fand bei wirtschaftlicher und sozialer Notlage hierzulande auch nicht statt.
Weitere Studien zeigen uneinheitliches Bild zum Konsum von Alkohol in der Corona-Pandemie
Weitere Studien in den letzten Monaten ließen zusätzlich aufhorchen. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim ermittelte in Kooperation mit dem Klinikum Nürnberg, dass der Alkoholkonsum bei mehr als einem Drittel der Erwachsenen seit Beginn der Coronakrise gestiegen war. 37,4 Prozent der rund 3.200 Teilnehmer gaben demnach bei einer anonymen Online-Umfrage an, „mehr oder viel mehr Alkohol“ getrunken zu haben als zuvor. Genau dies könnten – dies wird aber leider nicht berichtet – die einsamen, psychisch von der Krise stärker belasteten Personen sein.
Eine weitere Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) scheint die Ergebnisse aus Mannheim und Nürnberg zu bestätigen: Rund ein Viertel der 1.005 befragten Personen im Alter zwischen 16 und 69 Jahren gab an, mehr zu trinken als vor der Pandemie. Auch hier wird leider nicht näher berichtet, wer diese Personen sind und ob es vielleicht gerade die wirtschaftlich und finanziell Notleidenden oder besonders einsamen Männer und Frauen sind.
Die Statistik für Deutschland insgesamt spiegelt diese Zunahmen jedoch nicht wider. Laut den monatlich erhobenen Daten zum Bierabsatz deutscher Hersteller wurden zwischen Januar und Oktober 61,5 Millionen Hektoliter im Inland verkauft. 2019 waren es im selben Zeitraum noch 64,5 Millionen Hektoliter. Die Brauereien mussten inzwischen sogar Millionen Liter Bier entsorgen oder mühsam aus Fässern auf Flaschen umfüllen. Für den Januar 2021 wird sogar ein Rückgang für den Bierabsatz in Deutschland von 27 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat verzeichnet. Am stärksten ist der Absatzrückgang in Hessen mit 46.8 Prozent.
Alkoholparadoxon – Viele trinken in der Krise weniger, wenige deutlich mehr, nach der Krise trinken alle mehr
Obwohl die Ergebnisse der verschiedenen Studien zunächst verwirrend erscheinen, könnten sie doch im Kern ein altbekanntes Paradoxon bestätigen. Das Alkoholparadoxon zeigt sich darin, dass die ein großer Teil der Menschen in akuten Krisen weniger konsumiert. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass sie in solchen Krisen zunächst wachsam und reaktionsbereit bleiben wollen und dass dies darüber hinaus durch die Aktivierung des Stressachsensystems unterstützt wird. Diejenigen jedoch, die in Krisenzeiten so hoffnungslos und deprimiert sind, dass sie nicht gegen den Stress kämpfen, konsumieren in dieser Zeit mehr, teilweise deutlich mehr, und dies in Vereinsamung und Isolation. Das Phänomen erinnert an das Konzept der erlernten Hilflosigkeit des amerikanischen Psychologen Martin E.P. Seligman (geb. 1942). Dieser fand heraus, dass Menschen, die keine Aussicht auf den Erfolg ihrer Handlungen bei Anstrengung erlebten, in Apathie und Resignation verfielen. Ebenso kann die Situation der wahrgenommenen Hilflosigkeit zu Isolation, Einsamkeit und übermäßigem Alkoholkonsum führen.
Corona-Pandemie & Alkohol: Nach der Krise kommen Euphorie und Exzess
Da aber eine Dauerkrise schwer zu bewältigen ist, weil unser Stresssystem nicht auf chronisch andauernde Spannungszustände ausgelegt ist, lassen die Widerstandskräfte auf die längere Sicht nach oder erlahmen völlig. Dies kann bedeuten, dass die Zahl der einsam Trinkenden während und am Ende der Krise weiter zunimmt. Frühere Studien zu Alkohol- und Drogenkonsum haben wiederholt gezeigt, dass in den anschließenden Post-Krisenzeiten der Konsum insgesamt wieder ansteigt. Dies dient dann wohl der nachträglichen psychischen Bewältigung der Krisenzeit und dem Sich-Arrangieren mit den neuen Lebensbedingungen, die in solchen Zeiten oft sehr euphorisch, ekstatisch und lustbetont sind. Insofern ist zu erwarten, dass nach Ende der Corona-Pandemie, wann auch immer dies sein wird, der Konsum von Alkohol und Drogen in der Bevölkerung insgesamt zunehmen wird. Bei den einen, weil sie psychisch schon lange erschöpft und am Ende sind, bei den anderen, weil sie Euphorie und Glücksgefühle wieder im Überschwang erleben wollen.
Aufgabe der Suchthilfe: Real und digital bei den Betroffenen sein
Die Aufgaben der Suchthilfe in der Krise sind vielfältig und betreffen Prävention, Beratung und Therapie. Vor allem bestehen sie jetzt darin, die Isolierten und Vereinsamten zu begleiten. Dies wird mit den altbekannten Methoden im Rahmen der Komm-Struktur vieler Beratungsstellen nicht adäquat erreichbar sein. Die am meisten gefährdeten Menschen gerade in der Krise sind die, die am wenigsten gesehen werden. Deshalb sollten niedrigschwellige, aufsuchende (derzeit oft schwierig!) und vor allem digitalisierte und massenmediale Angebote verstärkt genutzt und ausgebaut werden. Insbesondere ist es eine aktuelle Aufgabe der Suchthilfe, in den sozialen Netzwerken für die entsprechenden Personen in Not und Einsamkeit präsent zu sein und sie mit alltagsnahen psychosozialen Hilfen zu versorgen.
Die (noch) Gesunden gilt es zu stärken und zu stabilisieren, die (schon) Kranken zu begleiten und ihnen Reduktions- und sozial förderliche Ausstiegsangebote zu machen. Die Eingangsfrage „to drink or not to drink“ kann am ehesten mit der Antwort „genussvoll und vor allem nicht alleine trinken“ beantwortet werden. Der Weg dorthin sollte jetzt für die akut Suchtkranken nicht länger und komplizierter werden. Dafür braucht es ein Soforthilfeprogramm für die besonders Betroffenen, seien es nun Menschen, die in den letzten Monaten erstmals suchtkrank geworden sind (eine echte Inzidenz!) oder jene, die nach Abstinenz wieder rückfällig geworden sind, weil ihre psychischen Kräfte erschöpft waren.
Literatur:
Manthey, J., Kilian, C., Schomerus, G., Kraus, L, Rehm, J. & Schulte, B. (2020). Alkoholkonsum in Deutschland und Europa während der SARS-CoV-2 Pandemie. Sucht 66(5), 247-258.