10 Argumente für mehr Familienorientierung in der Suchthilfe

Die Suchthilfe in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten differenziert entwickelt und in vielen Bereichen hochgradig spezialisiert. Obwohl schon lange bekannt ist, dass Suchtkrankheiten sich auf das familiäre Umfeld nachhaltig negativ und schädigend auswirken, fehlt nach wie vor eine umfassende Familienorientierung in der Suchthilfe. Dies liegt auch an der völligen Individuumsfixierung der wichtigsten Leistungsträger, Kranken- und Rentenversicherung. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Gründe für eine nachhaltige Familienorientierung in der Suchthilfe sprechen und wie diese zu verwirklichen ist.

Selektive Prävention fehlt noch überwiegend

Bei Kindern suchtkranker Eltern handelt es sich um die größte Risikogruppe für spätere Suchtstörungen. Frühzeitige Hilfen und Unterstützung sind daher von größter Wichtigkeit. Obwohl die Belastetheit und die negative Prognose dieser exponierten Kinder schon lange bekannt ist, gibt es nach wie vor keine regelhafte, flächendeckende selektive Prävention. Unter selektiver Prävention wird die Prävention für eine bekannte, definierbare Risikogruppe verstanden. An kaum mehr als 100 Standorten werden bislang Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern angeboten. Es ist nicht hinzunehmen, dass im Gesundheits- und Sozialbereich in Bezug auf die große Risikogruppe der Kinder und Jugendlichen suchtkranker Eltern (bis zu 2.65 Mill. Betroffene, wenigstens zeitweise) keine strukturverändernden, nachhaltigen Maßnahmen etabliert werden.

Frühzeitiger Kinderschutz ist notwendig

Kinder suchtkranker Eltern sind einem erhöhten Risiko für Gewalthandlungen und Vernachlässigung ausgesetzt. Dieses Risiko bezieht sich auf physische, sexuelle, emotionale, psychische und verbale Gewalt. Besonders in Phasen starker Intoxikation und intensiver Entzugssymptomatik wird das Elternverhalten oft unberechenbar und von den Drogen dominiert. Hilfen für exponierte Kinder sind daher notwendiger Kinderschutz zur Vermeidung langwieriger Gewalt- und Traumatisierungskarrieren. Frühintervention und selektive Prävention (siehe Punkt 1) sollten selbstverständliche Bestandteile des Kinderschutzes sein. Gerade da Suchtstörungen meistens erst spät erkannt und noch später behandelt werden, ist frühzeitiger Kinderschutz besonders wichtig. Dieser Ansatz würde auch die Abläufe in der Suchthilfe positiv beeinflussen können. Prävention und passgenaue Hilfen für Kinder in suchtbelasteten Familien sollten auch bei den „Frühen Hilfen“, die sich an Kinder im Alter bis zu drei Jahren richten, regelhaft implementiert werden.

Hilfe für Partner

Es gibt insgesamt mehr Angehörige von Suchtkranken als Suchtkranke selbst. Dazu gehören betroffene Partner, Kinder und Eltern. Die Partnerinnen suchtkranker Männer sind eine besonders häufig involvierte Personengruppe, von der schon lange bekannt ist, dass sie starken, dauerhaften und oft krankmachenden Stress erleben. Mitbetroffene Partnerinnen und Partner brauchen deshalb frühzeitige, auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse abgestimmte Hilfen. In der medizinischen Suchtrehabilitation Suchtkranker spielen die Partner nur eine untergeordnete Rolle, da diese Hilfen nach wie vor sehr individuumsfixiert in Bezug auf den einzelnen Suchtkranken vorgehen. 

Umso mehr muss die ambulante Suchthilfe, vor allem die Suchtberatung, die Partnerinnen und Partner in den Fokus ihres Handelns stellen. Bisher sind nur etwa 10% aller Interventionen der ambulanten Suchtberatung auf Partner von Suchtkranken bezogen. Vor dem Hintergrund eines systemisch-verhaltenspsychologischen Suchtverständnisses bestehen hier noch viele Optimierungsmöglichkeiten in der Praxis. Einzelne Therapieansätze in den USA stellen die Paarbehandlung ganz in den Fokus der Suchttherapie. Vor allem die „Behavioral Couple Therapy“ (BCT), ein verhaltenspsychologisch-systemischer Therapieansatz, stellt die Paarsituation ganz in den Fokus des Vorgehens. Förderung der Abstinenzmotivation, Verhaltensverträge, Verbesserung der Interaktion und Kommunikation, Wiederaufbau von Vertrauen und Übungen bezüglich alternativer Verhaltensweisen stehen im Zentrum des BCT-Vorgehens. Es liegen positive Evaluationen für das Konzept vor.

Ein ähnlicher Ansatz, ebenfalls aus USA, ist das „Community Reinforcement and Family Training“ (CRAFT). Auch hier stehen verhaltensorientierte, alltagsnahe Übungen, verbunden mit Instruktionen und Psychoedukation für die Partner, im Vordergrund. Auch dieser Ansatz ist in mehreren Studien als anwendungsfreundlich und wirksam evaluiert worden. In Deutschland haben beide Ansätze bislang nur wenig Verbreitung gefunden. Ursächlich verantwortlich dürften hier die in den Behandlungssystemen dominierende Individuumsfixierung und die geringe Förderung paartherapeutischer Ansätze insgesamt sein. In den Leitlinien der AWMF für Alkohol und Metamphetamin sind die Effektivitätsgewinne paartherapeutischer Maßnahmen gut dokumentiert. 

Modelllernen ist mächtig. Gute Modelle sind nötig

Wie immer wieder in entwicklungspsychologischen Studien gezeigt, spielt das Modelllernen beim Erwerb problematischen Substanzkonsums eine dominante Rolle. In der frühen Kindheit lernt ein exponiertes Kind fast ausschließlich von seinen Eltern bzw. den primären Bezugspersonen. Dieses Lernen geschieht überwiegend implizit, was gerade für eine tiefe, unbewusste Verankerung der Verhaltensabläufe im Zusammenhang mit Substanzkonsum und Substanzwirkung sorgt. Kinder erwerben in dieser Zeit insbesondere implizite Wirkungserwartungen in Bezug auf bestimmte Substanzen, deren Konsumfolgen sie bei ihren Eltern beobachten. Die Abläufe in der frühkindlichen Umgebung stellen für ein Kind eine alternativenlose Normalität dar, die sie intensiv beobachten und in sich aufsaugen, um vieles davon später nachzuahmen. 

Ab der frühen Jugend kommen Peers als attraktive Lernmodelle hinzu. Um einen adäquaten Umgang mit Substanzen und einen kontrollieren Konsum bzw. Nicht-Konsum zu etablieren, bedarf es passender Modelle. Diese müssen als glaubwürdig, authentisch und nachahmenswert bewertet werden. Den Eltern, Lehrern, Medienstars („Influencer“) und Peers kommt die größte Bedeutung zu. Die Suchthilfe sollte positive Modelle in Prävention, Beratung und Therapie vorhalten, damit adäquates Modelllernen geschehen kann. Die Suchtselbsthilfe spielt hier durch Modellpersonen, die schwierigste Krankheitsphasen ihrer Sucht bewältigt haben, eine besonders wichtige Rolle. 

Die transgenerationalen Grenzen sind alkohol- und drogendurchlässig

Die Transmission von Suchtstörungen geschieht mit einem deutlich erhöhten Risiko über Generationengrenzen hinweg. Bei familiär belasteten Kindern zeigt sich ein bis zu 6-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung eigener Suchtstörungen. Die Risiken hierfür werden biopsychosozial vermittelt, häufig durch Interaktionen der einzelnen Bereiche. Beispiele der Risikofaktoren sind: die verbesserte Alkoholverstoffwechselung („Alkoholreagibilität“) bei Söhnen alkoholabhängiger Väter (Bio), das Aufwachsen in einer alkoholbelasteten Familie (Sozio) und ein niedriges Selbstwertgefühl (Psycho). Es ist mehrfach bestätigt worden, dass gut ein Drittel der Kinder alkoholabhängiger Eltern selbst wieder eine Alkoholabhängigkeit entwickelt. Bei drogenabhängigen Eltern ist die Quote noch höher. Die Suchthilfe sollte allerorten ein kombiniertes Angebot aus Beratung und Therapie für suchtkranke Eltern einerseits und selektiver Prävention und Frühintervention für exponierte Kinder andererseits machen. Die Suchtbehandlung der Eltern sollte routinemäßig dazu führen, dass die psychische Gesundheit der Kinder in den Fokus genommen wird und im Bedarfsfall Hilfen zur Verfügung gestellt werden.

Pränataler Konsum schädigt direkt und dauerhaft

Eine spezielle transgenerationale Risikokonstellation ist der vorgeburtliche Alkohol- und Drogenkonsum schwangerer Frauen. Die häufigste vorgeburtliche Schädigung von Ungeborenen geschieht durch Alkohol. Auch Nikotin und illegalisierte Drogen können den Fötus schädigen. Die durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft erzeugten Schädigungen, die als Fetales Alkoholsyndrom (FAS) und als Fetales Alkoholsyndromspektrumsstörungen (FASD) bezeichnet werden, betreffen (1) Wachstum, (2) kognitive, neurologische, psychomotorische und sozioemotionale Entwicklung, (3) körperliche Entwicklung, Organschädigungen und (4) Gesichtsauffälligkeiten. Es gibt keine kritische Grenzmenge des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft, so dass ganz allgemein ein völliger Alkoholverzicht in der Schwangerschaft anzuraten ist.

Bei exzessiv und süchtig trinkenden Schwangeren ist das Risiko durch die Dauerexposition besonders hoch. Die Prävention von FAS und FASD ist eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Immerhin konsumieren noch mehr als 20% aller Schwangeren Alkohol, oft nur punktuell und sporadisch. Pränataler Alkohol- und Drogenkonsum können den Fötus direkt und dauerhaft schädigen. Die erworbenen Schädigungen sind im neurokognitiven Bereich irreversibel. Besonders für die schwangeren Frauen mit problematischem und süchtigem Alkoholkonsum sollte die Suchthilfe risikoreduzierende Angebote machen. Auch die werdenden Väter sollten, soweit möglich, miteinbezogen werden. Gerade wenn diese selbst ein Alkoholproblem haben, kann das werdende Kind auch für sie ein Anlass sein, ihren Konsum zu überprüfen. 

Suchtkranke Eltern wollen gute Eltern sein

Die meisten suchtkranken Eltern wollen in ihrem Alltag für ihre Kinder gute Eltern sein. Ihre Anstrengung und Motivation in diese Richtung sind unverkennbar, aber oft von den Phänomenen und Konsequenzen der Sucht überlagert. Dazu gehören Beschaffung der Substanzen, Phasen heftigen Verlangens („Craving“) oder des Entzugs genauso wie Verhaltens- und Wesensveränderungen unter Substanzeinfluss. Aber auch im Bereich des elterlichen Selbstbildes unterliegen suchtkranke Eltern oft den suchttypischen Selbsttäuschungen. Sie sehen sich dann positiver, als die Realität tatsächlich ist. Es handelt sich um eine selbstwertdienliche Verzerrung der Realität, die ihnen hilft, nicht die ganze Tragweite und Schwere ihres Verhaltens gegenüber ihren Kindern zu erkennen und vor allem nicht zu spüren.

Solange sie diese kognitive Abwehr aufrechterhalten, können sie nicht die Probleme und das Leiden ihrer Kinder in vollem Umfang nachvollziehen. Sie bleiben parteiisch in eigener Sache. Solange die Suchtsymptome in starker Ausprägung dominieren, sind sie egoistisch in dem Sinne, dass sie primär ihren Konsum in das Zentrum ihres Verhaltens und Erlebens rücken. Gegenüber ihren Kindern weisen sie deshalb einen Mangel an Empathie und Mitgefühl auf, während sie sich selbst übermäßig und meist auch unrealistisch positiv sehen. Für gute und gelingende Elternschaft müssen sie sich von der emotionalen Blindheit ihren Kindern gegenüber frei machen. Dann kann ihnen sensible, engagierte und entwicklungsförderliche Elternschaft gelingen. Und es kann zu einer intensiven Eltern-Kind-Beziehung kommen.

Hilfen für alleinerziehende suchtkranke Elternteile

Nicht nur gesamtgesellschaftlich gibt es immer mehr alleinerziehende Elternteile, sondern auch unter Suchtkranken hat die Zahl der Alleinerziehenden zugenommen. 90% davon sind Mütter. Der Alltag alleinerziehender suchtkranker Eltern ist besonders stressreich. Für die exponierten Kinder besteht darin ein besonderes Risiko. Der alleinerziehende hoch gestresste Elternteil ist oft nicht in der Lage, genügend sichere Bindung, elterliche Sorge und Beaufsichtigung, adäquate Erziehung und gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen. Bei aller Motivation und Anstrengung sind bei vorhandener Suchterkrankung die Grenzen des Möglichen eng gesetzt. Es bedarf erzieherischer Hilfen für die Kinder genauso wie pädagogische und suchtspezifische Hilfen für die alleinerziehenden Eltern. Besonders häufig sind drogenabhängige Eltern alleinerziehend. Da diese in mehr als 85% der Fälle auch psychisch komorbid sind, besteht ein großer Problemdruck. Für die gelingende Eltern-Kind-Beziehung sind vielfältige Hilfen im Mutter-/oder Vater- Kind-Kontext notwendig. Das drogenabhängige Eltern darf mit seinen Problemen nicht alleine gelassen werden, muss aber auch offen für diese Hilfen sein. 

Psychische Komorbiditäten im Familienkontext behandeln

Da Suchtkrankheiten selten alleine auftreten, schafft eine Familienorientierung die günstige, aber auch notwendige Möglichkeit, die psychischen Probleme im Familiensystem in Gesamtheit zu erkennen und zu behandeln. Eine familienorientierte Suchtbehandlung bietet eine hervorragende Möglichkeit, die psychische Gesundheit aller Betroffenen in den Fokus zu nehmen und passgenaue Hilfen zu verwirklichen.  So kann die Sucht- und Borderlinebehandlung für eine Mutter mit der Depressionstherapie für einen Vater und präventiven Maßnahmen für ein Kind kombiniert werden. Es kann eine konzertierte familiennahe, passgerechte Gesamtbehandlung des Familiensystems stattfinden. Seitdem die systemische Therapie als erstattungsfähige Psychotherapieform für Kranken- und Rentenversicherung anerkannt worden ist, steigen die Chancen zur Realisierung derartiger kombinierter Behandlungen mit Familiensystemen.

Familienresilienz fördern: Neue Wege gehen!

Familien können viele Stärken und Ressourcen entwickeln. Sie sind der beste Ort zur Entwicklung der Kinder zu starken Persönlichkeiten und psychisch gesunden Menschen, wenn den Kindern die dafür notwendige Liebe, Nähe und Zuwendung zuteil wird. Ohne funktionierende Familien gibt es keine funktionierende Gesellschaft. Daher kommt der Stressresistenz der Familien eine besondere Bedeutung zu. Neben der Individualresilienz spielt die Familienresilienz eine immer wichtigere Rolle für Menschen in stressigen Zeiten. Als Hauptkomponenten der Familienresilienz werden von der amerikanischen Resilienzforscherin Froma Walsh drei Faktoren angenommen:

 1. Positive Glaubenssysteme in der Familie miteinander teilen. Dadurch soll für die Widrigkeiten in der Realität ein Sinn gefunden werden und gleichzeitig ein positiver Ausblick für die Zukunft ermöglicht werden. Ein spiritueller, transzendentaler Bezug ist hier möglich und hilfreich. 

2. Hilfreiche Organisationsmuster der Familie, die Flexibilität, Bewältigungsperspektiven und Ressourcen stärken.

3. Proaktive Kommunikationsmuster, welche die Problemlagen offen ansprechen, ohne Schuldzuweisungen und Anklagen zu verteilen, sondern lösungsorientiert sind und auch neue Problemlösungsmuster hervorbringen. 

Die Stärkung der Familienresilienzen bietet für die Beteiligten die Möglichkeit, sich trotz hohen Alltagsstresses und den Widrigkeiten der Suchterkrankung eines oder mehrerer Familienmitglieder konstruktiv und selbstwertförderlich weiterzuentwickeln. Die Suchthilfe kann dieses Konzept gewinnbringend in ihre Alltagsarbeit integrieren.

Fazit

Es gibt viele Gründe, die Familienorientierung in der Suchthilfe zu stärken und durchgängig zu implementieren. Vor allem sind dies: Das Leid der Angehörigen wird reduziert, die Resilienz der betroffenen Kinder verstärkt und die Effektivität der therapeutischen Hilfen erhöht sich. Dennoch entwickelt sich der Prozess der Familienorientierung in der Suchthilfe noch zu langsam. Einerseits entstehen immer mehr Leuchtturmprojekte und engagierte Modellvorhaben. Andererseits mangelt es noch an der Implementierung regelhafter Angebote, die an allen Standorten verbindlich vorgehalten werden. Ebenso sind Verzahnungen mit anderen Hilfebereichen noch nicht obligatorisch vorgesehen. Politik und Leistungsträger sollten ebenso wie die Verbände und Fachgesellschaften die Stärkung der Familienorientierung zu einem zentralen Anliegen der Weiterentwicklung der Suchthilfe machen und damit die vielen Anregungen aus Forschung und Praxis aufgreifen, die seit Jahren vorgebracht werden.