Qualifikation in der Suchthilfe

Die professionelle Suchthilfe hat sich in den letzten 40 Jahren in Deutschland rasant weiterentwickelt und differenziert. Neben 700 Entzugskliniken, 300 Suchtfachkliniken und 1.300 Suchtberatungsstellen gibt es inzwischen auch eine große Zahl teilstationärer, niedrigschwelliger und präventiver Angebote. Seit den 1980er Jahren ist ein dichtes Netz regionaler Angebote gewachsen. Zusätzlich entstehen immer mehr online-basierte oder hybride Angebote. Vor diesem Hintergrund sind die Anforderungen an Ausbildung, Kompetenzprofile und Weiterbildung immer größer geworden. Die kontinuierliche fachliche Weiterqualifikation der Fachkräfte, einschließlich der Supervision, ist das Rückgrat einer modernen, zukunftsfähigen Suchthilfe. Der folgende Beitrag beschreibt die Ausgangssituation, die Inhalte und die zukünftigen fachlichen Anforderungen für erfolgreiche Tätigkeiten im Bereich der Suchthilfe. Auch wenn sich die deutsche Suchthilfe vergleichsweise auf einem hohen Niveau befindet, sind die Entwicklungsaufgaben der Zukunft gewaltig und müssen mit innovativen Konzepten und antizipativen Problemlösungen angegangen werden. 

(1) Ausgangssituation

Die bedarfsgerechte und umfassende Qualifikation im Tätigkeitsbereich der Suchthilfe ist eine zentrale Aufgabe zur Sicherung der Qualität und zur Weiterentwicklung der Angebote. Dabei spielen die Absolventen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege und Soziale Arbeit eine besonders wichtige Rolle. Im Folgenden wird die Situation schwerpunktmäßig aus der Perspektive der Sozialen Arbeit betrachtet, da drei Viertel der Fachkräfte in der ambulanten Suchthilfe aus diesem Feld stammt. 

Schätzungsweise mehr als 15.000 Fachkräfte aus der Sozialen Arbeiten sind in den verschiedenen Feldern der Suchthilfe (niedrigschwellig, ambulant, teilstationär, stationär) tätig. Fast zwei Drittel der Fachkräfte in dem Unterbereich der ambulanten Suchtberatung entstammen der Sozialen Arbeit. Im stationären Suchthilfebereich beträgt die entsprechende Quote ein Drittel. Die suchtspezifische Qualifikation im Bereich der Bachelor-Studiengänge ist deutschlandweit jedoch fast an allen Hochschulen unzureichend. Nicht selten wird das Thema nur peripher behandelt, ob gerade Suchtprobleme zu den größten sozialen und gesundheitlichen Problemen gehören. Deshalb kommt der Frage nach einer zukunftssicheren Qualifikation für die Suchthilfe in den einschlägigen Hochschulstudiengängen eine wichtige Bedeutung zu. 

Dabei ist die Qualifikation für therapeutische und beraterische Tätigkeiten im Suchtbereich alles andere als transparent und einfach geregelt. Die Ausgangssituation für eine umfassende Förderung von Nachwuchskräften ist bei dem geringen Stellenwert und der Vernachlässigung des Themenfeldes „Sucht“ in den für den Beruf zentralen Studiengängen Medizin, Psychologie und Soziale Arbeit denkbar ungünstig. Die schon vor Jahren ermittelten Zahlen, wie viele Lehrstunden in den grundständigen Studiengängen dem Themenfeld „Sucht“ gewidmet sind, lagen nicht höher als 32 Unterrichtsstunden in den genannten Studiengängen (Klein & Hoff, 2004). Die Verhältnisse haben sich seit Einführung der Bologna-Studiengänge nicht verbessert, sondern vermutlich verschlechtert. Leider fehlen aktuelle Zahlen. Dies macht deutlich, dass das Thema „Sucht“ im Unterschied zu seiner epidemiologischen und volkswirtschaftlichen Bedeutung in den Studiengängen unterrepräsentiert ist. Ursachen dafür dürften die Dominanz anderer Themen und eine implizite kognitive Abwehr des Themas bei den Verantwortlichen sein. Suchtkrankheiten werden ähnlich wie Suchtkranke selbst bagatellisiert, ignoriert oder marginalisiert. 

(2) Qualifikationen in der Suchthilfe

(2.1) Ausbildung, Weiterbildung, Fortbildung

(2.1.1) Ausbildung

In Bezug auf die Qualifikationsstufen herrscht oft Unklarheit. Mit Ausbildung ist der Grundberuf und die dort erworbenen Kompetenzen gemeint. Wenn also im Bachelor-Studium der Sozialen Arbeit Kenntnisse und Fertigkeiten zum Thema „Suchtstörungen“ vermittelt werden, zählt dies zur Grundausbildung in Suchtfragen. Wie schon weiter oben ausgeführt, wird das Thema „Sucht“ im grundständigen Studium jedoch kaum thematisiert. 

(2.1.2) Weiterbildung

Mit Weiterbildung ist die Kernqualifikation für Tätigkeiten im Bereich der Suchtstörungen gemeint. Dies kann eine suchtspezifische Qualifikation für Prävention, Beratung, Therapie und Nachsorge umfassen. Weiterbildung wird nach Abschluss eines grundständigen Studiums aus der Berufspraxis heraus absolviert. Weiterbildungen sind meist umfassender als Fortbildungen. Weiterbildungen umfassen oft Langzeitcurricula von 2-3 Jahren und können auch als Master-Weiterbildungsstudiengänge angeboten werden. Die von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV-Bund) in Koordination mit den anderen Rentenversicherungen und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung erlassenen Regelungen zur Qualifikation zur Suchttherapie im Rahmen der medizinischen Rehabilitation stellen die im Suchtbereich wichtigsten Weiterbildungsanforderungen dar.

Seitdem die DRV-Bund im Jahr 2019 die Anforderungen an die Teilnehmer solcher Weiterbildungen dahingehend geändert hat, dass diese während der gesamten drei Jahre dauernden Qualifikation in einer von ihr anerkannten Suchtrehabilitationseinrichtung tätig sein müssen, haben sich Nachfrage und Teilnahmemöglichkeiten eingeschränkt. Für viele an einer Tätigkeit im Suchthilfebereich interessierten jungen Fachkräfte ist der Zugang zu einer suchttherapeutischen Tätigkeit durch die Engführung der Zulassungskriterien durch die Rentenversicherung in unerfreulicherweise erschwert oder verunmöglicht. Es ergibt sich eine übermäßig starre Grenze zwischen der medizinischen Suchtrehabilitation als Tätigkeitsfeld einerseits und allen anderen Tätigkeitsfeldern, wie z.B. niedrigschwellige Hilfen, Entzug, Forensik, Beratung usw. 

(2.1.3) Fortbildung

Unter Fortbildung wird für die Fachkräfte in der Suchthilfe die berufsbegleitende Vertiefung und Aktualisierung des Wissens und der Fertigkeiten im Bereich der Suchthilfe verstanden. Bei Fortbildungen handelt es sich meist um kurzfristige Maßnahmen außerhalb umfangreicherer Curricula. Die Weiterbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe sind bislang nicht verbindlich geregelt, wie dies im Unterschied für ärztliche und psychotherapeutische Personen in ihrem Berufskontext der Fall ist. Wünschenswert wäre bei entsprechender Förderung und Unterstützung ein transparentes strukturiertes System der berufsbegleitenden Fortbildung.

(2.2) Weiterbildung als Hauptbestandteil der Qualifikation

Den Kern der Qualifikation für Tätigkeiten in der Suchthilfe stellt ein Weiterbildungscurriculum dar, das nach dem Bachelor-Abschluss berufsbegleitend stattfindet. Über Jahrzehnte galt das vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (DRV) und später das von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV-Bund) vorgegebene Rahmencurriculum als das non plus ultra für Weiterbildung in der Suchthilfe. Dieses Rahmencurriculum umfasst mindestens 600 Stunden Weiterbildung in Grundlagen der Entstehung und Behandlung von Suchtkrankheiten sowie die praktische Ausbildung in einem anerkannten suchttherapeutischen Verfahren (Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Therapie) einschließlich Gruppensupervision und Selbsterfahrung. 

Seitdem die DRV-Bund dieses Curriculum ausschließlich auf Nachwuchskräfte, die berufsbegleitend 3 Jahre in einer von ihnen anerkannten Suchtrehabilitationseinrichtung tätig sind, zuschneidet und alle anderen Felder der Suchthilfe ausschließt, verliert dieses Rahmencurriculum mehr und mehr an Bedeutung. Es bedarf anderer, innovativer Modelle zur Gestaltung der wichtigen Rahmenqualifikation für die künftigen Fachkräfte in der Suchthilfe. Wichtig dabei ist, dass diese die Suchthilfe in ihrer gesamten Breite kennenlernen und dort Erfahrungen, Wissen und Kompetenzen erwerben. Eine Einengung ausschließlich auf den Bereich der Suchtrehabilitation im Sinne der DRV-Bund ist eine wenig qualifikationsförderliche Maßnahme. 

Wünschenswert ist vielmehr, dass die künftigen Fachkräfte zunächst eine Praxiszeit von ein bis zwei Jahren absolvieren. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, curriculare Vorstellungen in Abstimmung zwischen Forschung und Praxis zu entwickeln. Welche Inhalte, Kompetenzen und Haltungen sollen den künftigen Fachkräften vermittelt werden? Zu den zu erwerbenden Qualifikationen zählen Kompetenzen auf der Ebene des Wissens, des Handelns und der Haltung im therapeutischen oder beraterischen Kontext mit Suchtkranken. Zu diesen drei zentralen Bereichen der Qualifikation für die Suchthilfepraxis folgt im Weiteren eine nähere Darstellung. 

(3) Die Basiskompetenzen in der Suchttherapie

Zu den Basiskompetenzen für eine Tätigkeit in der Suchttherapie zählen, ähnlich wie in anderen Feldern der Klinischen Sozialarbeit, der Klinischen Psychologie und Psychotherapie, Fähigkeiten, die sich auf Wissen, Können und Handeln sowie innere Haltungen und Einstellungen beziehen.  

(3.1) Wissen als Kompetenz in der Suchthilfe

Zu den Wissensaspekten, die für Fachkräfte in der Suchthilfe von zentraler Bedeutung sind, zählen: 

(1) Ätiologie, Genese und Verlauf von Suchtstörungen

(2) Substanzen und deren Wirkung; Psychopharmakologie

(3) Persönlichkeits- und verhaltenspsychologische Grundlagen

(4) Genderaspekte: Geschlechtsrollen, Geschlechtsidentitätsprobleme

(5) Sexualität, Sexualstörungen

(6) Psychische Komorbiditäten

(7) Rückfälligkeit, Rückfallprävention

(8) Sinnfragen, Spiritualität 


Das Wissen sollte auf der Basis aktueller Forschung vermittelt werden. Da Suchtforschung überwiegend im angelsächsischen Bereich stattfindet bzw. auf Englisch publiziert wird, sollten Kenntnisse der wissenschaftlichen Fachsprache vorhanden sein oder vermittelt werden. Wenn Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich für eine Tätigkeit in der Suchttherapie qualifizieren, sollten sie umfangreiches Wissen zur biopsychosozialen Entstehung von Suchtstörungen erwerben. Auch wenn Suchtstörungen im Kern eine Erkrankung des Gehirns und der Psyche (Kognition, Emotion, Bewusstsein) darstellen, sind umfassende Kenntnisse in allen Bereichen des biopsychosozialen Geschehens und besonders in Bezug auf die Interaktionen dieser Bereiche von Nöten. Es ist dabei wichtig, die Entstehungs- und Aufrechterhaltensbedingungen sowie die Veränderungsmöglichkeiten süchtigen Verhaltens im Einzelfall analysieren zu können.

Zu den relevanten Bereichen des Grundlagenwissens gehören einerseits die verschiedenen Erscheinungsformen von Sucht (Substanzsüchte, Verhaltenssüchte), andererseits die relevanten Risikofaktoren aus den Bereichen Genetik und Neurobiologie, Persönlichkeit und psychische Entwicklung sowie soziale Risikofaktoren und soziokulturelle Faktoren einschließlich Gender- und Kultursensibilität. Kenntnisse in Migrations- und Ethnizitätsfragen sind ebenso unabdingbar wie solche in Familienfragen. Auch grundlegende Kenntnisse von Rechtsfragen (Jox, 2022) in den Bereichen Sozial-, Gesundheits-, Familien, Straf- und Ausländerrecht sollten vorhanden bzw. abrufbar sein. 

(3.2) Handeln als Kompetenz in der Suchthilfe

Zu den zentralen Handlungskompetenzen in der Suchthilfe zählen: 

(1) Beziehungsaufbau und Interaktionsgestaltung

(2) Motivierung, Förderung der Behandlungs- und Veränderungsmotivation

(3) Diagnostik und Dokumentation

(4) Krisenintervention (bei Behandlungsabbruch, Rückfälligkeit, Suizidalität usw.)

(5) Therapieplanung und -umsetzung, Zielklärung und -festlegung

(6) Basale Interventionsmethoden in den Bereichen Aktivierung, Differenzierung, kognitive Umstrukturierung, biographische Analyse, Interpretation von problematischen Lebens- und Interaktionsmustern, Ressourcenanalyse, Resilienzförderung

(7) Festigung von Behandlungserfolgen, Entwicklungsförderung neuer Gewohnheiten

(8) Angehörigenarbeit 

Zu den Handlungskompetenzen gehören Grundlagen der Beratung und Psychotherapie. Gesprächsführungstechniken sollten ebenso erworben werden wie motivierende Methoden und Handlungsmethoden für schwierige, krisenhafte Situationen. Fachkräfte in der Suchttherapie sollten in der Lage sein, eine grundlegende psychosoziale Diagnose zu erstellen, die von anderen Fachkräften um biologisch-medizinische Aspekte erweitert wird. Auf der Basis dieser Diagnostik, die prozessual und adaptiv angepasst und weitergeführt wird, erfolgt eine Behandlungsplanung, die zentrale Aspekte kontinuierlicher Motivierung, Selbstreflektion und Verhaltensveränderungen umfasst. Auch die Berücksichtigung der Angehörigen (Partner, Kinder, Eltern) sollte zu den grundlegenden Handlungskompetenzen gehören.

Im Sinne der fünf zentralen therapeutischen Wirkvariablen nach Grawe sollten folgende Aspekte im Therapieverlauf von den Fachkräften realisiert werden: 

(I) tragfähige und intensive therapeutische Beziehung. Die Qualität der Beziehung – die therapeutische Allianz – trägt wesentlich zum Erfolg der Suchttherapie bei. Deshalb ist es wichtig, dass Suchtpatientinnen und Suchtpatienten sich von den therapeutischen Fachkräften einfühlsam verstanden, akzeptiert und wertgeschätzt fühlen.

(II) umfassende Ressourcenaktivierung. Fähigkeiten und Kompetenzen zur Problembewältigung (Persönlichkeitsanteile, Motivation, Fähigkeiten, Interessen, Zielorientierung) der Patienten werden in der Therapie aktiviert. Auch ein Anknüpfen an frühere, lange nicht mehr aktivierte Kompetenzen ist möglich. Es sollten gezielte Ansprache und Aktivierung funktional positiver Ressourcen erfolgen. 

Patienten sollen ihre Stärken und positiven Seiten mit Hilfe der Therapie wahrnehmen und vertiefen können.

(III) Problemaktualisierung im Hier und Jetzt. Die im Zusammenhang mit der Suchtstörung relevanten ursächlichen und aufrechterhaltenden Probleme sollen den Betroffenen erlebbar und zugänglich gemacht werden. Typische therapeutische Methoden zur Problemaktualisierung sind Rollenspiele, Selbstberichte der Patienten, Imaginationsübungen, Konfrontation mit abgewehrten Erlebensinhalten und Anleitungen zur Rekonstruktion. Die für Suchtpatienten besonders schwierige Problemaktualisierung bezieht sich nicht nur auf die unmittelbaren Symptome der Krankheit (Verlangen, Entzug, Toleranzerhöhung), sondern auch auf die mit dem Suchtgeschehen korrespondierenden biopsychosozialen Probleme (Arbeitsplatz- und Partnerprobleme, Interaktionseinschränkungen). 

(IV) Aktive Hilfe zur Problembewältigung durch den Therapeuten. Hilfe zur Problembewältigung ermöglicht den Suchtkranken, positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit ihren Problemen zu machen. Der Therapeut kann aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrungen Vorschläge und Impulse zu Umsetzung geben. Vermittelt werden dabei störungsspezifische Kompetenzen (z.B. Umgang mit Verlangen, Rückfallsituationen) und störungsübergreifende Kompetenzen (z.B. soziale Kompetenz, positive Kommunikation, Problemlösefertigkeiten oder Emotionsregulationstechniken).

(V) Selbsterkenntnis und motivationale Klärung. Die Therapie fördert mit geeigneten Maßnahmen, dass die suchtkranken Patienten ein klareres Bewusstsein der Determinanten (Ursprünge, Hintergründe, aufrechterhaltende Faktoren) und Hintergründe ihrer Erkrankung und ihres problematischen Verhaltens erlangen. Kognitive Abwehrmechanismen stehen einer realistischen Selbstwahrnehmung oft im Weg. Daher ist ein vertieftes Verständnis dieser Abwehrmechanismen und ihrer Auflösung unabdingbar (siehe „Sucht als Wahrnehmungs- und Denkstörung: Kognitive Abwehr und Verzerrungen bei Suchtstörungen“). Die Therapie trägt mit Methoden der Selbstreflektion, Psychoedukation und Interpretation dazu bei, dass die Patienten vertiefte Selbsterkenntnis und ein plausibilisierendes Verständnis in die eigene Biographie erlangen. 

Der Erwerb umfassender therapeutischer, interaktionaler und motivierender Handlungskompetenzen soll die Fachkräfte in die Lage versetzen, erfolgreich Suchttherapien auf der Basis evidenzbasierter Methoden durchzuführen. Neben einer evidenzorientierten Haltung, die sich an dem in der Therapie orientiert, was als wirksam gilt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit als solches gelten kann, sollte eine innovative, kritisch rationale Haltung bestehen. Was die Innovationsorientierung angeht, sollten Neuerungen aus anderen Bereichen frühzeitig auch im Suchttherapiebereich erprobt werden. Differentielle Therapieziele, Berücksichtigung von Familie und sozialem Umfeld sowie Ansätze der Schadenreduktion sind hier als Beispiele zu nennen. Besonders aber ist die Digitalisierung der Suchthilfe ein lange vernachlässigtes, besonders dringliches Thema, um ihre eigene Existenz zu sichern und für die Hilfesuchenden passgenaue und flexible Angebote vorzuhalten. Fachkräfte in der Suchthilfe sollten eine Affinität zu Innovationen im Allgemeinen und zu flexiblen, digitalen und hybriden Hilfeansätzen aufweisen oder entwickeln.

(3.3) Haltung als Kompetenz in der Suchthilfe

Die innere Haltung der Fachkräfte in der Suchthilfe ist von besonderer Bedeutung für das Gelingen ihres Handelns. Verschiedene Therapieschulen betonen verschiedenartige Ansätze, was die geeignete Haltung der Therapeuten angeht. Allen gemeinsam sind jedoch folgende Ansätze für die innere Haltung der Therapeuten: Akzeptanz, Respekt, Veränderungsorientierung und eine humanistische Grundhaltung. Hinzu kommen bisweilen Haltungen wie Neugierde, Offenheit, Transparenz, Humor usw. 

Beim Motivational Interviewing (Miller & Rollnick, 2015) wird die Haltung des Therapeuten als Basisvariable für die Wirksamkeit des Verfahrens besonders betont. Der Therapeut soll dem Patienten auf Augenhöhe begegnen, nicht mit Expertenwissen die Meinung des Patienten dominieren und ihm bei Problem- und Lebenslösungen begleiten und unterstützen. Die Haltungen der Therapeuten hängen eng mit inneren Einstellungen zusammen, die gerade am Anfang der Berufskarriere geprägt werden (Klein, 2023). Für die Selbstfürsorge der Fachkräfte ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie ihre inneren Haltungen reflektieren, Barrieren und Störfaktoren abbauen und sich von dysfunktionalen Stressfaktoren freimachen (siehe auch „Selbstfürsorge für Fachkräfte in der Suchthilfe – da geht noch mehr!“). Neben dem humanistischen Menschenbild in der Suchttherapie ist eine durchgängige interdisziplinäre Teamorientierung wichtig. Die Fachkräfte in der Suchthilfe sollten sich um eine dauerhafte Reflektion und Vertiefung ihrer therapeutisch förderlichen Haltungen bemühen. 

(4) Ausblick

Die Qualifizierung von Fachkräften in der Suchthilfe ist eng durch die Vorgaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) reglementiert. Auch wenn diese nur für das Feld der Medizinischen Rehabilitation gelten, haben sie für alle Bereiche der Suchthilfe, besonders wo therapeutische Hilfen geleistet werden, eine große Bedeutung. Sie funktionierten bislang wie ein Benchmarking für alle Qualifikationen in der Suchthilfe, zumal da Fachkräfte in der Regel mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausüben, wie z.B. Einzelgespräche, Gruppengespräche, Suchtberatung, ambulante Rehabilitation. Dies bedeutete, dass sich die Qualifizierung in der Suchthilfe insgesamt eng an den DRV-Vorgaben orientiert hatten. Für alle Felder der Suchthilfe sind die in den DRV-anerkannten Curricula enthaltenen Lehrinhalte, wie Motivierung, Beziehungsgestaltung, Rückfallprävention, von hoher Relevanz.

Die im Jahr 2019 von der DRV-Bund eingeengten Zulassungsrichtlinien für eine anerkannte Weiterbildung in der Suchttherapie spalten das Tätigkeitsfeld in ungünstiger Weise in einen Bereich, der sich nur in medizinischer Suchtrehabilitation qualifiziert und in einen anderen, größeren Bereich, in dem sich eine Vielzahl anderer Tätigkeitsfelder (Beratung, niedrigschwellige Hilfen, Forensik, Jugendsuchthilfe, Wohnungslosensuchthilfe usw.) befinden. Für eine optimale Qualifikation der Fachkräfte müssten Erfahrungen in allen Bereichen gewonnen werden. Die jetzigen DRV-Vorgaben gefährden die Qualifizierung von ausreichend vielen Nachwuchskräften. Da es kein anderes, vergleichbar wichtiges Modell zur Qualifizierung der Fachkräfte in der Suchthilfe gibt, ist es dringend geboten, die DRV-Kriterien für die suchttherapeutische Tätigkeit auf eine breite Basis zu stellen, bei der Kenntnisse zu allen wichtigen Tätigkeitsfeldern erworben werden, damit die Arbeit in der medizinischen Suchtrehabilitation aus den dort erworbenen Kompetenzen profitieren kann. 

(5) Zukunft und Lösungen

Das Tätigkeitsfeld Suchthilfe ist durch die derzeitigen DRV-Regelungen aufgespalten und liefert keine einheitliche Qualität der Qualifikation mehr. Die Bestimmungen der DRV sind einerseits geeignet, eine hohe Qualität der Qualifikation sicherzustellen, andererseits erzeugen sie durch die engen Vorgaben hinsichtlich der Zugangsberechtigung eine Spaltung der Praxisfelder (Reha vs. Nicht-Reha) und einen immer stärker werdenden Fachkräftemangel, weil zu wenige Nachwuchskräfte durch das System der DRV-anerkannten Weiterbildungsstätten qualifiziert werden. Berufs- und fachpolitisch stellen die DRV-Regelungen zur Qualifikation zur Suchttherapie nunmehr ein übermäßig verengtes Nadelöhr dar, durch das zu wenige Nachwuchskräfte graduiert werden. Insgesamt ist das von der DRV verantwortete Qualifikationssystem für Suchttherapeuten in der jetzigen Form praxisfern, übermäßig rigide und zu selektiv.

Dennoch ist eine Weiterbildung in Suchttherapie für Bachelor-Absolventen der Sozialen Arbeit eine attraktive Berufschance. Zum einen wird der Bedarf an qualifizierten therapeutischen Fachkräften in den nächsten Jahren hoch sein, zum anderen stellt dieser Weg den letzten möglichen für Absolventen der Sozialen Arbeit in eine psychotherapeutische Tätigkeit dar. Die Zukunft der Suchthilfe ist jedoch hinsichtlich der Qualifikation von Nachwuchskräften durch die im Jahre 2019 seitens DRV nochmals verschärften Zugangs- und Durchführungsregelungen gefährdet und nicht nachhaltig gesichert. Es müssten dringend – unter Beibehaltung der curricularen Inhalte – flexiblere Zugangskriterien implementiert werden. Auch ist es nicht adäquat, dass die zukünftigen Fachkräfte während ihrer gesamten Weiterbildungszeit (36 Monate) in einer von der DRV anerkannten Suchtrehabilitationseinrichtung tätig sein müssen. Vielmehr wäre es vorteilhaft, wenn diese neben einer Basistätigkeitszeit in einer Rehabilitationseinrichtung andere Felder der Suchthilfe kennenlernen würden.

Um eine hochstehende Qualität der Weiterbildung in der Suchthilfe zu erlangen, müssten Fachverbände, Weiterbildungsinstitute und Hochschulen umfassende curriculare Vorstellungen entwickeln und durchsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass die Leistungsträger aus ihren praxisfernen und für die Zukunft der Suchthilfe schädlichen Vorstellungen herauskommen und die anderen Felder der Suchthilfe außerhalb der medizinischen Suchtrehabilitation als Bezugsgrößen und korrespondierende Tätigkeitsfelder, ohne die auch keine Rehabilitation möglich ist, anerkennen und entsprechend in ihre curricularen Vorstellungen integrieren. Andernfalls droht die medizinische Suchtrehabilitation selbst zu einem marginalisierten Tätigkeitsfeld zu werden. 

Literatur

Jox, R. (2022). Rechtliche Aspekte der Suchthilfe. Stuttgart: Kohlhammer.

Klein, M. (2023). Selbstfürsorge für Fachkräfte in der Suchthilfe – Problemkonstellationen, Forschungsergebnisse, Lösungen. Rausch – Wiener Zeitschrift für Suchttherapie 12 (1/2), 111 – 117.

Klein M. & Hoff T. (2004). Evaluation des postgradualen Studiengangs ´Master of Science (M.Sc.) in Addiction Prevention and Treatment´ – Suchthilfe als Studiengang zur Verbesserung der therapeutischen und wissenschaftlichen Kompetenz von Suchthilfemitarbeitern. Suchttherapie 5, 30-36.

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