Resilienz – Die Kraft, die in den Menschen steckt

„Menschen halten unheimlich was aus…“, sagte ein suchtkranker Patient, Sohn eines alkoholabhängigen Vaters unlängst in einer Psychotherapie-Sitzung zu mir.

Schon lange wissen wir um die Kraft der Menschen, besonders in Krisen- und Notsituationen zu widerstehen, gesund zu bleiben oder sogar an Kompetenz und Ressourcen zu wachsen. Oft konnten Krisen und Notzeiten nur überstanden werden, wenn die Menschen noch „eine Schippe“ drauflegten, an Widerstandswillen, Energie, Überlebenswillen. All dies hat natürlich viel mit Psychologie zu tun, gelingt diese Kraftanstrengung doch nur als Anstrengung von Geist, Seele und Körper. Natürlich spielt vielfach auch die spirituelle Energie – das Sinnfinden in extremen Zeiten, worin auch immer dieser besteht – eine gewichtige und entscheidende Rolle. In der Psychologie wird diese Fähigkeit als Resilienz bezeichnet und bedeutet psychische Widerstandsfähigkeit in Krisen- und Stresssituationen. 

In Krisen hilft die Erfahrung des Überlebens und Wachsens trotz Stress

Bei der biologischen Evolution der Arten steht die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit im Zentrum. Lebewesen müssen sich verändernden Umweltbedingungen anpassen lernen. Und manchmal muss das ganz schnell gehen, wie derzeit gerade in der Corona-Krise. Die Krise aktiviert in vielen Menschen ungeahnte Kräfte und Energien und erhält ihre psychische Gesundheit oder stärkt sie sogar noch. Andere verzweifeln oder zerbrechen auch daran. Manche flüchten sich in vermeintliche Wahrheiten, die bei einigermaßen vernünftiger Betrachtung doch nur Irrlehren und Selbstbetrug sind. Viele Menschen entwickeln in solchen Krisen, seien sie gesellschaftlich, kulturell oder familiär, einzigartige Fähigkeiten und Lösungen.

Das Stressachsensystem: Notwendig, hilfreich, aber nicht überstrapazieren! 

Wenn starker psychischer Stress auf Menschen einwirkt, aktiviert dies das biologisch schon alte System zur Reaktion auf Stress, das Stressachsensystem. Dies bereitet auf Angriff oder Flucht vor, bringt den Organismus also blitzartig in eine optimierte Verfassung zur Stressbewältigung. Diese Aktivierung zu Angriff oder Flucht, zieht eine ganze Reihe biologischer, psychischer und sozialer Konsequenzen nach sich, vor allem wenn der Stress über längere Zeit vorherrscht oder gar chronisch besteht. Dann verliert das System seinen Zweck und die Effekte verkehren sich sogar ins Gegenteil.

Die Reaktionen auf solche hoch stresshaften Situationen sind interindividuell sehr unterschiedlich und spiegeln die ganze Bandbreite menschlicher Verhaltensmöglichkeiten wieder. Insofern war schon immer klar, dass nur bestimmte Individuen auf Krisen- und Notsituationen gut angepasst reagieren, wobei selbst die Frage, was eine gute Anpassung darstellt je nach Situation und Person variieren kann. Andere Menschen entwickeln in Krisen psychische Probleme, wie Ängste und Depressionen, werden suizidal oder beginnen sich mit Suchtmitteln zu betäuben. Nach Epochen starken Stresses oder gar massenhafter Traumatisierung – wie z.B. dem Terror der Nazi-Herrschaft – erfolgt oft eine Rückbesinnung und Analyse der Kräfte, die zum Überleben geholfen haben.

Gewachsenes Interesse an der psychischen Widerstandskraft von Menschen

Genau diese Frage, warum Menschen auf Krisen und Stress so unterschiedlich reagieren, haben verschiedene psychologische Forscher im 20. Jahrhundert begonnen systematisch zu erforschen. Dieses Interesse ist nach den Grausamkeiten und Extremtraumatisierungen der Nazi-Zeit und dem 2. Weltkrieg stark angewachsen. Es ging darum zu verstehen, wie Menschen besonders traumatisierende Lebensereignisse und Lebenslagen psychisch gesund überstehen können. 

Salutogenese und Resilienz – Kernkonzepte der Stressbewältigung

Besonders die Arbeiten von Aron Antonovsky zur Salutogenese und Emy Werner zur Resilienz sind wichtig, um das Wesen der menschlichen Anpassung in der Krise und gegenüber Stress – vom kurzen Ereignis bis zur chronischen Exposition gegenüber Gewalt – zu verstehen. Die Arbeiten von Antonovsky waren ursprünglich auf das Bewältigungsvermögen und die Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit ehemaliger weiblicher jüdischer KZ-Opfer gerichtet. Die deutschstämmige Werner begann in den 50-er Jahren mit stark benachteiligten Kindern in den Bergen der hawaiianischen Insel Kauai eine Langzeitstudie zur Frage, ob und wie sich diese Kinder, deren Eltern oft alkoholabhängig und gewalttätig waren, psychisch gesund entwickelten. Während Antonovsky aufgrund seiner zahlreichen Tiefeninterviews mit den in KZs inhaftierten Frauen und später auch anderen Traumaopfern das Konzept der Salutogenese entwickelte, kondensierte Werner aus ihren Daten das Konstrukt der Resilienz, der Fähigkeit einiger Kinder, sich trotz chronischen psychischen Stresses psychisch – zumindest weitgehend – gesund zu entwickeln. 

Salutogenese und Resilienz helfen gegen Traumatisierungseffekte

Als weitere Forschungstradition, die sich allerdings erst deutlich später herausbildete, ist die Traumaforschung zu benennen. Diese hat spätestens seit den früher 1990-er Jahren – vor allem im  Zuge des jugoslawischen Bürgerkrieges – einen erheblich Aufschwung genommen. Natürlich wären diese Forschung und die Fokussierung auf die Traumatisierungen in Kriegen angesichts der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts  schon lange nötig gewesen.

Definitionen und Konzepte von Resilienz

Die Forschungen von Emi Werner und in der Folge vieler anderer WissenschaftlerInnen haben sich im Wesentlichen darauf fokussiert herauszufinden, wie Resilienz als Widerstandsfähigkeit gegen starken psychischen Stress funktioniert. Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen zu bewältigen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen. 

Kurze Geschichte der Resilienzforschung

Zunächst kristallisierte sich in den Arbeiten von Werner als Ergebnis wiederholter Befragungen der exponierten Kinder heraus, dass es bestimmte intrapsychische Fähigkeiten waren, die sie besonders resilient machen. Dazu gehörten eine gutes Selbstwertgefühl, eine mindestens durchschnittliche Intelligenz, die Fähigkeit sich selbst zu steuern und zu helfen. Die Kinder, die diese Eigenschaften hatten, konnten besser mit dem Dauerstress in Familien mit Sucht und Gewalt umgehen und blieben häufiger psychisch gesund. Hinzu kam als soziale Resilienz, dass eine liebevolle, bedingungslos akzeptierende, stabil zugewandte Bezugsperson, auf Hawaii häufig die Lehrerinnen, für eine stabile psychische Gesundheit trotz der dauerhaften Widrigkeiten im Leben der Kinder sorgten. Werner sprach von der dauerhaft zugewandten, positiv interagierenden, akzeptierenden Bezugsperson, die für ein Kind, das dauerhaften negativen Stress erlebt, für eine gesunde Entwicklung nahezu unabdingbar ist. In der Folge wurden zahlreiche weitere Resilienzstudien, insbesondere mit Kindern in benachteiligten und traumatisierenden Umwelten, durchgeführt. 

Ein erstaunliches Ergebnis: Ein Teil der schwer gestressten Kinder bleibt gesunde

Es zeigte sich, dass meist ein Viertel bis ein Drittel der chronisch exponierten Kinder eine so starke Resilienz aufwies, dass sie keine psychischen oder anderweitigen Beeinträchtigungen davontrugen. Außerdem zeigte sich, dass Resilienz überwiegend trainierbar ist, also gesteigert werden, sich aber auch abschwächen kann. Im Mittelpunkt stand nunmehr die gesunde, langfristige Entwicklung trotz anhaltendem, hohem Stress. Auch die beständige Kompetenz unter akuten Stressbedingungen wurde zunehmend zum Forschungsgegenstand. 

Resilienz hilft gegen chronischen Stress in Familien

Diese beiden Szenarien entsprechen den von Klaus A. Schneewind für die Familienpsychologie postulierten Familienstresskonstellationen, dem Toleranzstress und dem Katastrophenstress. Ersterer fokussiert auf die Dauerexposition gegenüber hohem Stress, letzter bezeichnet die Exposition gegenüber einem unerwarteten starken negativen Ereignis. Auch die schnelle Erholung von einem Trauma ist ein Zeichen hoher Resilienz. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse (2019, 13) definieren Resilienz als einen dynamischen oder kompensatorischen „Prozess positiver Anpassung bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen und dem Auftreten von Belastungsfaktoren. Charakteristisch für Resilienz sind außerdem ihre variable Größe, das situationsspezifische Auftreten und die damit verbundene Multidimensionalität“. 

[Fröhlich-Gildhoff, Klaus & Rönnau-Böse, Maike (2019, 5. akt. Auflg.). Resilienz. München: Ernst Reinhardt]

Resilienzfaktoren bei Kindern suchtkranker Eltern

Wenn es gilt Resilienz im Entwicklungsverlauf oder in Krisen zu fördern, spielen konkret benennbare und damit konzipierbare Resilienzfaktoren eine entscheidende Rolle. Viele Resilienzförderprogramme sind heutzutage auf der Basis grundlegender Resilienzfaktoren entwickelt worden. Aus den Lebenserfahrungen der Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern sind besonders wirksame Programme und empirisch fundierte Konzepte entwickelt worden, so etwas das TRAMPOLIN-Plus-Programm (Klein et al., 2013) oder das CHIMPS-Programm (Wiegand-Grefe et al., 2011). Gerade in der heutigen Corona-Krise, deren Ende noch nicht abzusehen ist, gilt es, die Resilienz aller Menschen zu stärken, die der besonders vulnerablen jedoch besonders im Fokus zu behalten. Dazu zählen in erster Linie Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern, bei denen das folgende Modell auch empirisch erhoben wurde. Besonders resiliente Kinder weisen die sieben Resilienzen in hohem Maße auf, so dass sie bei weniger resilienten Personen gefördert und gestärkt werden sollten (vgl. Wolin & Wolin, 1995; Klein et al., 2013): 

(1) Kognitionen:

Von der Ahnung über das Wissen zur Erkenntnis. Es hilft Menschen, Stress und Krisen zu widerstehen, wenn sie verstehen, was mit ihnen passiert. Bei Kindern beginnt es oft mit einer Ahnung, dass etwas nicht stimmt, bis sie altersentsprechend Wissen über ihre Umwelt erwerben und ausweiten können, um schließlich zu erkennen, was schief läuft in Familie und Gesellschaft. Dazu gehört: Verstehen, was mit mir passiert. Durchschauen, welche Probleme die anderen haben und wie sie damit (richtig oder fehlerhaft) umgehen. Von der Ahnung (hier stimmt was nicht), zum Wissen (was ich tun muss, damit es mir besser geht) zur Einsicht (in meiner Familie gibt es ein Problem, das ich alleine nicht lösen kann). So kann ich durch meine Gewissheit, dass ich verstehe, was los ist, trotz Krise, Gewalt und Dauerstress wenigstens etwas positives Denken bewahren und dies im Leben ausbauen.

(2) Emotionen:

Hier geht es darum, sich von negativen, übertriebenen oder unrealistischen Emotionen zu schützen. Vor allem ist es wichtig, sich von Stimmungen und negativen Emotionen, mit denen andere manipuliert werden (sollen), frei zu machen, sich von ihnen zu distanzieren und etwas Eigenes entgegenzusetzen. Eine depressive Mutter etwa wird die Gefühle ihres Kindes auf Dauer mit ihrem negativen Weltbild nachhaltig beeinflussen, im Extrem vergiften. Dies abzuwehren und die eigenen Emotionen von denen eines negativen Vorbildes abzutrennen, wirkt sich resilient aus. Eine gute Emotionsregulation schützt vor psychischen Dysbalancen und Störungen.

(3) Beziehungen:

Menschen können durch Beziehungen ihre psychische Widerstandskraft stärken und ausbauen, wenn in diesen Beziehungen positive Werte und vor allem Bestätigung und Akzeptanz vermittelt werden. Dafür ist natürlich die Kindheit eine besonders wichtige Phase. Beziehungen können durch wertvolle akzeptierende Erfahrungen eine wichtige Säule der Resilienz werden. Als Resilienzfaktor zählt natürlich im Kern die dann entstehende Beziehungsfähigkeit, sich nämlich positive, wertschätzende und gesundheitsförderliche Beziehungen beschaffen und erhalten zu können. 

(4) Initiative:

Initiativ werden heißt, das Leben in die eigene Hand nehmen und die Selbstwirksamkeit erhöhen. In vielen Resilienzstudien zeigte sich, dass das Engagement in sozialen sportlichen und kulturellen Aktivitäten die Widerstandsfähigkeit gegen chronisch widrige Familien- und Lebensumstände stärkte. Für Kinder in benachteiligten oder psychisch dysfunktionalen Kontexten kann dies bedeuten, dass das Engagement im Fußballverein, bei der Jugendfeuerwehr oder im Chor zu der Erhöhung dieses Resilienzfaktors führt. 

(5) Kreativität:

Die intensive Erfahrung grenzüberschreitender Tätigkeiten, wie dies besonders beim Musizieren, künstlerischem Schaffen, Schreiben usw. geschieht, ist ein weiterer wichtiger Baustein zur psychischen Widerstandsfähigkeit. Hier ist es besonders die Fähigkeit, sich durch das Erfinden neuer Sichtweisen und die Distanzierung vom grüblerischen Alltagsdenken und –empfinden zu erleichtern, die bei der Entwicklung von psychischer Stressresistenz hilft. 

(6) Humor:

Schon lange sind die heilenden und gesundheitsförderlichen Funktionen des Humors bekannt. Diese beziehen sich besonders auf selbstbezogenen Humor, die Fähigkeit über sich selbst in humorvoller Art und Weise zu denken und zu empfinden. Dies ist ein Anzeichen für die Fähigkeit, sich vom eigenen Leid und Stress distanzieren und aus einer metakognitiven Perspektive selbst betrachten zu können. Dies umfasst verschiedene Humorformen, zu denen auch Ironie, Sarkasmus und „schwarzer Humor“  gehören. 

(7) Moral:

Ein stabiles Wertesystem ist wichtig, um Entscheidungen im Leben zu treffen. Die bezieht sich vor allem auf Fragen des Verhaltens im Umgang mit ethischen Grenzfällen. Drogenkonsum, Betrug, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit sind einige der Themen, die in diesem Zusammenhang relevant werden können. Menschen mit einem klaren Wertesystem können auch in Krisen- und Stresssituationen eher Kurs halten und gut für sich selbst sorgen. 

Diese sieben Resilienz-Faktoren wurden durch Interviews mit Kinder suchtkranker Eltern erhoben. Sie sind die Basis vieler Präventions- und Interventionsprogramme. 

Ein alternatives Resilienzmodell

Vor einigen Jahren wurden von den Resilienzforschern Reivich & Shatté auf der Basis ihrer Analysen sieben zentrale Resilienzfaktoren postuliert. Die Herleitung dieser Resilienzfaktoren bleibt empirisch unbefriedigend. Dennoch weisen sie eine hohe Alltagsplausibilität und im Übrigen eine hohe Ähnlichkeit zu anderen Resilienzmodellen (wie etwa denen, die von Wolin & Wolin oder Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse [2019] vertreten werden), so dass das Modell hier etwas ausführlicher dargelegt wird. 

Die von Reivich & Shatté benannten Resilienzfaktoren sind:

  1. Emotionssteuerung
  2. Impulskontrolle
  3. Kausalanalyse
  4. Empathie
  5. Realistischer Optimismus
  6. Selbstwirksamkeitsüberzeugung
  7. Zielorientierung

Die sieben Resilienzfaktoren werden wie folgt beschrieben:

(1) Emotionssteuerung

Emotionssteuerung beschreibt die Fähigkeit, auch unter hohem, dauerhaftem Druck Ruhe zu bewahren und die Kontrolle über aufkommende Emotionen zu behalten. Menschen mit guter Emotionsregulation nehmen ihre Gefühle bewusster und achtsamer wahr als andere, erkennen diese klarer und können sie weitgehend steuern und erfolgreich regulieren. Meist geschieht das automatisch durch internalisierte Strategien. Ihnen gelingt diese Bewältigung im Sinne von Regulation auch in Situationen großer persönlicher Herausforderungen oder schwerer Rückschläge. Ihre Leistungsfähigkeit und Handlungskompetenz wird dementsprechend nur wenig durch ihre Emotionen beeinträchtigt.

(2) Impulskontrolle

Menschen mit hoher Impulskontrolle verfügen über erfolgreiche Strategien, um Ziele zu erreichen, planen ihre Verhaltensweisen vorausschauend, folgen nicht sofort neuen Impulsen und geben in der Regel bei Frustration seltener auf. Sie bringen Vorhaben in der Regel zu Ende und erreichen dadurch eine große Zufriedenheit. Sie sind also vor allem selbstkontrolliert und diszipliniert. Bei der Arbeit oder in relevanten Beziehungen können sich Menschen mit hoher Impulskontrolle über einen längeren Zeitraum besser konzentrieren und lassen sich weniger leicht ablenken.

(3) Kausalanalyse

Kausalanalyse beschreibt die Bereitschaft, ein Problem zeitlich und inhaltlich gründlich und zutreffend zu analysieren. Menschen haben alle das Streben nach schnellen, plausibel erscheinenden Kauaslattributionen in dem Sinne, das Verhalten anderer wie auch das eigene plausible zu erklären. Vielfach werden dabei jedoch falsche und voreilige Schlussfolgerungen gezogen. Die genaue Kausalanalyse hilft Menschen dabei, begangene Fehler nicht zu wiederholen und verhindert, dass sie zu früh aufgeben. Gründe für Erfolge und Misserfolge werden bei der Kausalanalyse gründlich und selbstreflexiv eingeschätzt. Das schont im Weiteren personale und zeitliche Ressourcen. Im Gegensatz dazu neigen wenig resiliente Menschen dazu, für Misserfolge und Rückschläge sich selbst die Schuld zu geben und Erfolge nur glücklichen Umständen oder dem Zufall zuzurechnen.

(4) Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, dass wir durch unser eigenes Handeln Dinge beeinflussen und in gewünschter Weise verändern können. Menschen mit hoher Selbstwirksamkeit bauen dann zu Recht die Erwartung auf, dass sie den Lauf der für sie wichtigen Dinge gezielt beeinflussen können und wissen aus Erfahrung, wie dies gelingt. Entsprechend aktiv engagieren sie sich, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Sie bevorzugen solche Aufgaben, die sie herausfordern, auch wenn dies erst einmal mit einer erhöhten Anspannung verbunden ist. Sie wachsen also mit ihren Erfahrungen und Aufgaben.

(5) Realistischer Optimismus

Realistischer Optimismus beschreibt die Überzeugung, dass sich Dinge zum Guten wenden können und werden. Dies speist sich überwiegend aus inneren Überzeugungen, Weltbildern und Persönlichkeitsmerkmalen. Wichtig ist dabei, dass der Optimismus in Einklang mit der Realität und den zu erreichenden Erfolgen bleibt. Er beschreibt außerdem die Fähigkeit, auch in sehr schwierigen Situationen eine Sinnhaftigkeit und etwas Positives, also eine Herausforderung, zu sehen und zu entdecken: Das Glas ist in der Regel halb voll und nicht halb leer, wäre ein typisches Ausdruck des realistischen Optimismus. Realistisch optimistische Menschen zeigen vor dem Hintergrund einer erworbenen Gelassenheit auch viel Nachsicht und Toleranz mit ihren Mitmenschen. Adäquat optimistische Menschen schätzen die Realität zutreffend und auch durchaus kritisch ein, sind also nicht übertrieben und maßlos optimistisch. Denn unrealistischer Optimismus führt dazu, dass Risiken und Erfolgsaussichten falsch eingeschätzt werden und führt somit zu falschen Entscheidungen und Handlungen.

(6) Empathie

Empathie beschreibt die Fähigkeit, sich auf der Basis von beobachtetem Verhalten und emotionalen Reaktionen in die psychische und emotionale Lage eines anderen Menschen zu versetzen. Empathische Menschen können gut nachfühlen, was andere Menschen in entsprechenden Situationen fühlen und interessieren sich für das Erleben anderer. Vielen fällt dies leichter, wenn sie schon einmal eine vergleichbare Situation wie ihr Gegenüber erlebt haben. Empathie hilft uns in der Folge, mehr Verständnis für unser Gegenüber aufzubringen und uns auf diese einzustellen, indem wir auf der Basis der wahrgenommenen Emotionen ihr Verhalten besser vorhersagen können. Empathie setzt komplexe Wahrnehmungsfähigkeiten („theory of mind“) voraus und führt zu einem gelingenderem Interaktionsverhalten.

(7) Zielorientierung

Dieser siebte und letzte Resilienzfaktor wird von Reivich und Shatté als „Reaching-Out“-Faktor  bezeichnet und wird auf Deutsch mit „Zielorientierung“ nur unzureichend übersetzt. Gemeint ist damit das Ausmaß, in dem ein Mensch sich gerne für neue Ziele einsetzt und diese anschließend auch verfolgt und umsetzt. Menschen mit hohen Werten auf dem Faktor Zielorientierung sind gut in der Generierung und Erreichung passender Ziele für die in ihrem Leben relevanten Themen und Probleme und finden mit ihrer Beharrlichkeit dann auch die richtigen Lösungen und erreichen ihre Ziele. Um diese Ziele dann zu erreichen, gehen sie die notwendigen Schritte voller Selbstbewusstsein, Gelassenheit und Konsequenz an. Entscheidend ist dabei auch, dass sie sich die Ziele selbst stecken. Das unterscheidet sie von getriebenen, fremdbestimmten Menschen. Dies führt zu einer überwiegend selbstbestimmten, autonomen Identität.

Der Resilienzquotient (RQ) – Noch ein Zukunftsmodell

Die Werte eines Menschen bei den einzelnen Faktoren können mit Hilfe von Fragebögen ermittelt werden. Das von Reivich und Shatté entwickelte „Resilience Factor Inventory“ (RFI) ermöglicht es darüber hinaus, auf der Basis der erreichten Einzelwerte, einen Resilienzquotient (RQ) zu bestimmen. Dieser Resilienz-Quotienten soll die wesentlichen Faktoren der Individualresilienz umfassen und empirisch fassbar machen. Über die Reliabilität und Validität des RQ ist bislang jedoch wenig bekannt. Eine testtheoretische Fundierung muss also noch erfolgen. Dennoch erscheint der Ansatz vielversprechend, um Resilenzdiagnostik zu verbessern – sowohl in Querschnitts- als auch in Längsschnittuntersuchungen. Dadurch könnte ein dann als reliabel und valide ermittelter RQ gut in Präventions- und Interventionsmaßnahmen integriert werden. 

[Literatur: Reivich, K., & Shatté, A. (2002). The resilience factor: 7 essential skills for overcoming life’s inevitable obstacles. Broadway Books].

Auch Systeme brauchen Resilienzen: Paare, Familien, Städte, Staaten, Kulturen

Nicht nur Individuen können Resilienzen entwickeln, auch größere Systeme wie Paare, Familien, Stadtteile und auch ganze Völker und Staaten. Zum längerfristigen Überleben brauchen eben auch Systeme wie Staaten und Kulturen die Fähigkeit, sich bei Stress und Krisen flexibel anzupassen. Was braucht es aber dafür, dass Systeme Resilienzen entwickeln? Der Untergang des römischen Reiches ist ein Beispiel dafür, wie ein über Jahrhunderte hochresilientes System und eine stressbewährte Kultur langsam an dieser Fähigkeit verloren hat und schließlich kollabiert ist. Aber schauen  wir uns das Phänomen der Systemresilienz am Beispiel der Familie an. 

Familienresilienz

Nicht nur Individuen können Resilienz aufbauen und stärken, auch Familien und andere Systeme können ihre Resilienz stärken und entwickeln. Dieser Aspekt stand in  der Resilienzforschung lange im Hintergrund und findet erst seit einigen Jahren Beachtung. Das Konzept der Familienresilienz wurde Anfang der 2000-er Jahre von Froma Walsh begründet und fokussiert auf die Möglichkeit, dass sich ganze Familien oder famliale Subsysteme (z.B. Geschwister, Mütter und Kinder, Großeltern und Enkel) resilient entwickeln. Noch sind die Forschungserträge zum Thema „Familienresilienz“ übersichtlich. Es werden vor allem drei Familienresilienzfaktoren angenommen: (1) Sinngebende Glaubenssysteme, (2) Flexible, adaptive Organisationsmuster und (3) offene, klare und partizipative Kommunikationsstrukturen. 

Risiko- und Schutzfaktoren  – gute Balance ist gefragt

Ob ein Mensch (oder ein System) genügend Resilienzen aufweist, zeigt sich meist erst in der Krise oder unter Dauerstress. Deshalb ist Prävention so wichtig, damit in den entscheidenden Phasen  und Situationen des Lebens genügend Resilienzen vorhanden sind. Die Kompetenzen und Ressourcen müssen vor der Krise ausreichend entwickelt und gefestigt sein, damit sie dann aktiviert und erfolgreich benutzt werden können. Die Schutzfaktoren und Ressourcen müssen die Risikofaktoren und  Defizite überwiegen, um die negativen Effekte zu kompensieren. In der Krise können sie sich bewähren und ggf. noch wachsen. 

Vernachlässigung, Misshandlung und Gewalt sind die stärksten Herausforderungen für das Kindeswohl

Als besonders schädigend für die psychische Gesundheit von Menschen (speziell Kindern und Jugendlichen) erwies sich in vielen Studien die Häufung und andauernde Exposition gegenüber besonders starken negativen Stressfaktoren. Als solche haben sich z.B. die Vernachlässigung eines Kindes, die physische, psychische oder sexuelle Misshandlung und Gewalt an einem Kind sowie auch die Zeugenschaft bei Gewalt des Vaters gegen die Mutter erwiesen. Dies sind Ereignisse, die im Umfeld einer elterlichen Sucht- und Drogenstörung und auch bei manchen anderen elterlichen psychischen Störungen besonders häufig auftreten. Es wurden aber auch distantere Risikofaktoren entdeckt, wie z.B. Armut und beengte Wohnsituation der Familie, Trennung und Scheidung der Eltern, Inhaftierung des Vaters, Bildungsbenachteiligung uvm. 

Resilienz als zentraler Faktor in der Bewältigung der Corona Krise

Die Widerstandsfähigkeit gegen die derzeitige Corona-Pandemie variiert interindividuell stark nach allem, was derzeit bekannt erscheint. Die Durchhaltefähigkeit in Bezug auf die Einschränkungen im Alltag wird zunehmend zur Herausforderung und zum Alltagsproblem. Auch dies erfordert ein hohes Maß an Resilienzen. Menschen  verhalten sich in der Corona-Krise wie in allen existentiellen Krisen, seien diese nun im sozialen Nahraum (Partnerschaft, Familie) oder in der Gesellschaft als Ganzes. 

Ihre tieferliegenden Persönlichkeitsmerkmale, ihre Stressreaktionsmuster werden in diesen Krisen offenkundig. Aus der Resilienzforschung können viele Schlussfolgerungen zur Bewältigung der jetzigen Dauerkrise gezogen werden. Die jahrelange Beschäftigung der Resilienzforschung mit Individuen und Systemen in der Krise und unter hohem Alltagsstress, wie dies bei suchtbelasteten Familien meist der Fall ist, nutzt nun auch bei der Bewältigung der Corona-Krise.

Die meisten Resilienzexperten empfehlen folgende Konsequenzen:

Emotionsregulation, Impulskontrolle, Kausalanalyse, Empathie, realistischer Optimismus und Zielorientierung sind wichtige Kompetenzen der heutigen Zeit genauso wie Humor, Kreativität Autonomie und Initiative.   

Generation Corona – Wie werden sich die Kinder entwickeln?

Es ist denkbar, dass die Kinder der Generation Corona resilienter werden als die vorherige Generation, weil sie diese Fähigkeiten jetzt erlernen und anwenden müssen. Genau so ist es aber auch möglich, dass sich mehr psychische Schäden in dieser Generation zeigen werden, wenn nicht genügend Resilienzen rechtzeitig erworben  werden konnten. Erst künftige Studien werden dies genau aufdecken können. 

Gesellschaften und Staaten brauchen auch Resilienzen

Auch größere Systeme passen sich unterschiedlich gut an die Corona-Krise an: Staaten wie Großbritannien, Türkei, USA und vor allem Brasilien, die in Folge ihrer ignoranten Regierungen das Problem erfolgreich zu ignorieren hofften, was dem Abwehrmechanismus der Verleugnung entspricht, lassen ihre Bürger einen hohen Preis dafür zahlen. Gerade populistische Regime scheinen für diesen dysfunktionalen Bewältigungsversuch besonders prädestiniert.

Von suchtbelasteten Familien lernen – Eine Option in der Krise

Auch in Suchtfamilien ist dieser Mechanismus der Verleugnung und kognitiven Verzerrung bekannt: Das allseits offensichtliche Phänomen der Suchterkrankung eines Familienmitglieds wird mit aller Macht geleugnet, bis es nicht mehr geht, weil die negativen Konsequenzen gar nicht mehr zu leugnen sind. So taumeln viele Regierungen und die ihnen exponierten Völker derzeit durch die Krise. Dass die deutsche Regierung die Krise bislang überwiegend gut bewältigt hat, wird von vielen internationalen Experten anerkannt, interessanterweise aber von zunehmend vielen inländischen BürgerInnen geleugnet. Auch dies könnte sich als Mechanismus der Verleugnung, einem simplen Abwehrmechanismus auf dem niedrigem Strukturniveau erweisen (siehe https://www.addiction.de/abwehr-corona/ ). 

Leugnung und Verdrängung als Massenphänomen – keine gute Lösung!

Die massenhafte Leugnung und Verdrängung eines zwar evidenten, aber nicht sichtbaren Verursachungsfaktors für eine Pandemie folgt genau der einfachen psychologischen Prozedur der Abwehr von  Angst. Dass dabei als Ventil der Verleugnung die Ablenkung in Verschwörungs- und Verfolgungsgeschichten benutzt wird, ist auch von psychischen Störungen und anderen schwer zu verarbeitenden Krisen bekannt. Auch die Pandemie der Spanischen Grippe (1918 – 1920) wurde so in den meisten betroffenen Ländern “verarbeitet” und dadurch weitgehend vergessen. Dann handelt es sich um paranoide, wahnhafte oder extrem intoxikierte Zustände. Demnächst folgt auf dieser Website eine vertiefte Beschäftigung mit dem Phänomen der Verschwörungsnarrative aus psychologischer Sicht

Wie geht es weiter? Resilienzstabilisierung und –ausbau

Die derzeitigen Verhältnisse in Gesellschaft und Familien stellen hohe Anforderungen an die Bewältigungsfähigkeiten aller, besonders aber der psychisch Schwachen und Kranken. Die Kommunikation über die Corona-Pandemie und ihre Folgen für Gesellschaft und Familie sollte den Erträgen der Resilienzforschung folgen und damit sowohl im kognitiven als auch im emotionalen Bereich die Bewältigungsressourcen stärken. Dies kommt dann wiederum den besonders vulnerablen Personengruppen zu Gute, in unserem Tätigkeitsbereich den Kindern suchtkranker und psychisch kranker Eltern und vielleicht auch den Suchtkranken selbst. Auch sie brauchen Stärkung ihrer psychischen Ressourcen, z.B. zur Abwehr parasuizidaler Gedanken, Rückfallphantasien und der Tendenz der Selbstaufgabe bei drohender oder eingetretener Arbeitslosigkeit. 

Resilienzaufbau und -stärkung ist eine Aufgabe des Gesundheits- und Bildungswesens

Und ja, es stimmt, Menschen halten unheimlich was aus, wie mein Psychotherapiepatient unlängst sagte. Aber damit sie an dem, was sie – vor allem als Kinder – aushalten müssen, nicht zerbrechen und möglichst psychisch gesund bleiben, was bei ihm nicht der Fall war, sollten ihre psychischen Widerstandskräfte frühzeitig und nachhaltig gestärkt werden. Dafür sind Gesundheits-und Bildungswesen koordiniert zuständig. Psychische Gesundheit und Bildung gehören zusammen! Prävention psychischer Störungen, die flächendeckend in unserem Land für Kinder und Jugendliche nicht geschieht, ist keine Luxusleistung des Gesundheits- und Sozialwesens, sondern zwingend notwendig. Wann besonders, wenn nicht jetzt!?!