Suchtkranke Eltern – ein psychisches Risiko für Kinder? Teil 1: Grundlagen, Kultur- und Sozialgeschichte, Epidemiologie.

In diesem Beitrag will ich das aktuelle Wissen zu den Entwicklungsrisiken, Resilienzen und Präventionsmöglichkeiten für Kinder suchtkranker Eltern zusammenfassen, das derzeit vorliegt. Der Beitrag wird wegen seiner Länge in drei Teilen präsentiert. Ich habe in den letzten 35 Jahren als Psychotherapeut und Suchtforscher am meisten zu dem Thema „Kinder suchtkranker Eltern“, transgenerationale Risiken und Förderung von Resilienzen behandelt und geforscht. Am Anfang, d.h. in den 1980-er Jahren, war das Thema in Deutschland noch ein absolutes Tabuthema.

Dies hat sich inzwischen glücklicherweise geändert. Auch wenn zahlreiche andere psychologische Forschungsthemen mich immer wieder und oft neu begeistert haben, ist der transgenerationale Blick auf Familien – mit oder ohne psychische Auffälligkeiten – ein besonderes Faszinosum für mich geworden und geblieben. Die Klinische Familienpsychologie ist in Deutschland nur eine kleine Disziplin innerhalb der Psychologie im Speziellen und innerhalb der Humanwissenschaften im Allgemeinen und ich hoffe, dass sie noch eine wichtige Zukunft haben wird. Sie beschäftigt sich mit der Entstehung und den Auswirkungen psychischer Störungen in Familien, ihrer Prävention und Behandlung. Dieser psychologischen Disziplin fühle ich mich besonders zugehörig. Deshalb an dieser Stelle ein aktuelles Update zum Thema „Sucht und Familie“ mit einem Ausblick auf künftige Forschungsbedarfe.

Einleitung und Überblick

Psychische Störungen in Familien prägen das Klima und Alltagsverhalten in den betroffenen Familien (Schneewind, 2010; Bodenmann, 2016) in starkem Maße und können negative und dauerhafte Spuren in der psychischen Gesundheit und der Biographie der betroffenen Kinder (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017) hinterlassen. Eine elterliche psychische Störung wirkt sich in vielfältiger Weise auf die betroffenen Kinder aus. Diese Auswirkungen können genetischer, psychologischer und sozialer Art sein.

Besonders relevant sind die Interaktionen aus diesen drei Bereichen des biopsychosozialen Ätiologiemodells psychischer Störungen. Als besonders schwerwiegend gelten elterliche psychische Störungen in den Bereichen Depression, Sucht und Persönlichkeit, die darüberhinaus auch noch oft in komorbiden Kombinationen auftreten (Klein, Thomasius & Moesgen, 2017). Suchtstörungen zählen dabei zu den häufigsten, aber auch schwerwiegendsten Störungen, die zu beachten sind. Kinder suchtkranker Eltern bilden die größte Risikogruppe zur Entwicklung einer Suchtstörung (Klein, 2018). Der negative und risikohafte Einfluss auf Kinder in suchtbelasteten Familien ergibt sich vor allem aus verändertem Interaktionsverhalten, einem höheren Ausmaß an Alltagsstress, inkonsistentem Erziehungsstil, abrupt wechselndem Bindungsverhalten und weiteren dysfunktionalen elterlichen Verhaltensweisen. 

Der vorliegende Beitrag fokussiert auf Kindheit und Entwicklung in suchtbelasteten Familien, ohne dabei den Einfluss anderer, komorbider elterlicher Störungen aus dem Auge zu verlieren. Die Berücksichtigung elterlicher psychischer Komorbidität geschieht bislang zu selten in Forschung und Praxis. Sie stellt damit in diesem Themenbereich eine der wichtigsten zukünftigen Herausforderungen dar. 

Mehr als ein Drittel der betroffenen Kinder wird selbst wieder suchtkrank

Alleine schon das wiederholt in empirischen Studien erhobene und gut dokumentierte Risiko, dass Kinder alkoholkranker Eltern in mehr als einem Drittel aller Fälle selbst ab der frühen Jugend eine eigene Suchtkrankheit entwickeln (Klein, Moesgen, Bröning &Thomasius, 2013), sollte Anlass für eine verstärkte Beschäftigung mit dem Thema sein. Es handelt sich insgesamt um eine transgenerationale Problemlage, die sich im Extremfall in der Betroffenheit zahlreicher Familienangehöriger auf verschiedenen Generationenebenen („high density families“) äußern kann. In nicht wenigen Familien lassen sich über drei oder vier Generationen suchtkranke Familienmitglieder identifizieren. Als Methode eignet sich hierfür das Familiengenogramm („family tree“) besonders für Forschung und Praxis.

Epidemiologie

Zunächst gilt es, die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen einzugrenzen und zu spezifizieren. Je nach Definition des Beurteilungskriteriums (elterliche Abhängigkeit und/oder Missbrauch; Lebenszeit- vs. Jahres vs. Punktprävalenz; Kinder, die bei ihren Eltern leben vs. Fremduntergebrachte Kinder; Mono- vs. Komorbidität des Elternteils) schwanken diese Zahlen erheblich. Daher ist stets anzugeben, um welche Ausgangsgruppe es sich handelt. Was die Alkoholstörungen angeht, ist im Regelfall von einer Gebrauchsstörung im Sinne des DSM-5 auszugehen, die leicht, mittelgradig oder schwer sein kann. In älteren Untersuchungen dreht es sich meist um eine Alkoholabhängigkeit oder einen Alkoholmissbrauch nach DSM-IV. Auch spielt es eine entscheidende Rolle, ob die Kinder in ihren Familien leben oder fremduntergebracht sind, z.B. in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Leider liegen dazu wenige Zahlen vor. 

Kinder aus alkoholbelasteten Familien

Schon länger ist bekannt, dass in Deutschland etwa jeder siebte Jugendliche mit einem Elternteil zusammenlebt, der eine alkoholbezogene Störung (Abhängigkeit oder Missbrauch) hinsichtlich der Lebenszeitprävalenz aufweist (Lachner & Wittchen, 1997). Insofern besteht in Deutschland bei insgesamt bis zu 2,65 Millionen Kindern und Jugendlichen im Alter von bis zu 18 Jahren im Laufe ihres Lebens zeitweise oder dauerhaft die Problematik einer elterlichen Alkoholdiagnose (Klein, 2005). Aktuelleren Schätzungen des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA, 2008) zufolge sind in Deutschland 5-6 Millionen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren von einer elterlichen Alkoholabhängigkeit betroffen. Dies bedeutet, dass 15.4 % der Kinder und Jugendlichen wenigstens einen Elternteil mit relevanten Alkoholproblemen aufweisen.

Die Dauer der Exposition gegenüber der elterlichen Problematik kann dabei sehr stark variieren, ist aber relevant für die Risikoermittlung in Bezug auf das Kind. Dabei gelten lange Expositionsdauern gegenüber den elterlichen psychischen Störungen als besonders kritisch und riskant für die psychische Entwicklung des Kindes (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017). In Anbetracht der hohen Fallzahlen betroffener Kinder und Jugendlicher ist es nicht übertrieben, die Zahl und Situation von Kindern in alkoholbelasteten Familien als prioritäres Public-Health-Problem in Deutschland anzusehen. Die berichteten Prävalenzen sind auch Ausdruck der immer noch unzureichenden Prävention, insbesondere im Bereich der Verhältnisprävention und der selektiven Prävention.

Pränatale Substanzexposition – kulturhistorische Aspekte

Die vorgeburtliche Exposition gegenüber psychotropen Substanzen kann den Fötus nachhaltig schädigen. Dies war schon zu Zeiten der Antike bekannt. Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) schrieb: „Närrische, betrunkene oder gedankenlose, zerstreute Frauen bringen meist Kinder hervor, die wie sie selbst sind, krank und matt“. Einige Jahrhunderte später äußerte sich der griechische Schriftsteller und Philosoph Plutarch (ca. 45 – ca. 125 n. Chr.) mit den Worten „Trinker zeugen Trinker“.  Es hat also schon früh ein implizites Wissen um die Gefährlichkeit des Alkohols im Umfeld von Zeugung und Schwangerschaft gegeben.

Später entstand der bis in das frühe 20. Jahrhundert verbreitete Volksglaube, dass die Intoxikation des Mannes oder der Frau im Moment der Zeugung einen „Idioten“ entstehen lassen könne. Die wissenschaftliche Entdeckung und Beschreibung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) datiert aber erst in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1899 hatte der Liverpooler Gefängnisarzt W.C. Sullivan bereits seine Beobachtung veröffentlicht, dass ehemals trinkende Mütter im Gefängnis gesunde Kinder zur Welt brachten.

War ihnen während der Schwangerschaft der Zugang zu Alkohol versperrt, blieben die Kinder unauffällig. Der Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum, der in der Haft unterbunden wurde, blieb aber als Kausalfaktor zunächst unerkannt. Beachtenswert sind auch Publikationen aus dem frühen 20. Jahrhundert, in denen sich Warnungen bezüglich des Alkoholkonsums erstmals speziell an schwangere Frauen richteten. Noch war jedoch der genaue Zusammenhang nicht bekannt, so dass die Schriften eher appellativen, moralischen Charakter aufweisen.

Die Entdeckung des Fetalen Alkoholsyndroms im 20. Jahrhundert

Im Jahr 1957 erschien dann die nach heutigem Stand erste Publikation zur Alkoholschädigung bei Kindern durch mütterlichen Alkoholkonsum: Jaqueline Rouquette untersuchte für ihre Doktorarbeit 100 Kinder von trinkenden Eltern in Paris und fand, dass die nachgeburtlich gefundenen Schädigungen dann stark waren, wenn es die Mutter war, die während der Schwangerschaft trank. In Rouquettes Arbeit ist die FAS-Symptomatik erstmals klar beschrieben, das Konzept aber noch nicht als solches benannt. Ihre Dissertation fand jedoch zunächst keine Beachtung und wurde erst 10 Jahre später von Paul Lemoine (Nantes) wieder aufgegriffen. Dieser beobachtete mit seinem Team (Lemoine et al., 1968) an 127 Kindern auffällige körperliche und neurologische Beeinträchtigungen, die er auf Alkoholkonsum der Mütter (wie Rouquette prüfte er den Konsum beider Eltern) zurückführen konnte. Er beschrieb benannte präzise die wesentlichen Anzeichen der Alkoholschädigung beim Kind, ohne jedoch das Syndrom als solches zu benennen:
(1) Gesichtsauffälligkeiten, (2) Wachstumsretardierung, (3) Mikrozephalie und (4) psychomotorische Störungen.
Wenige Jahre später wurde der Begriff des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) durch die Forschungen von Jones & Smith (1973), das in einer knappen Publikation in „Lancet“ dargestellt wurde, weltweit bekannt. FAS wurde endlich als eine der wichtigsten Ursachen für eine angeborene geistige Entwicklungsstörung erkannt.

Neugeborene mit FASD in Deutschland – Zahlen

In Deutschland kommen jährlich bis zu 1.800 Neugeborene mit dem Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms und bis 10.000 mit der Symptomatik des FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung) auf die Welt. Diese Kinder werden von Müttern mit Alkoholstörungen oder Alkoholkonsum während der Gestation des Ungeborenen (durchschnittlich 267 Tage) (Landgraf & Heinen, 2013) geboren. Hinzu kommt eine nach wie vor nicht genau bekannte Zahl von Neugeborenen mit pränatalen Schädigungen durch Drogenkonsum der Mütter in der Schwangerschaft. Diese pränatalen Drogeneffekte beziehen sich vor allem auf Kokain, Amphetamine und Cannabis.  Da die pränatal erworbenen substanzbedingten Störungen irreversibel sind, kann muss von etwa 400.000 bis 600.000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer FASD-Diagnose ausgegangen werden.

Kinder aus drogenbelasteten Familien

Die genaue Zahl der Kinder drogenabhängiger Eltern ist wegen der Illegalisierung dieser Substanzen nicht bekannt. Das subkulturelle Geschehen der Drogenabhängigkeit, das sich infolge der Illegalisierung des Besitzes und faktisch auch des Konsums bei den Eltern entwickelt, stellt für die betroffenen Kinder jedoch – neben der Intoxikation des drogenabhängigen Elternteils – einen weiteren Risikofaktor dar, der so für die Kinder alkoholabhängiger Eltern nicht zutrifft. Dies hat eine erhebliche soziale Stigmatisierung und Marginalisierung der betroffenen Kinder zur Folge.

Die Zahl der von elterlicher Drogenabhängigkeit betroffenen Kinder kann nur geschätzt werden. Plausible Schätzungen für Deutschland bewegen sich zwischen 40.000 und 60.000 Kindern und Jugendlichen. Meist handelt es sich dabei faktisch um elterliche Polytoxikomanie unter Beteiligung von Opiaten, Cannabis, Kokain und Amphetaminen (Klein, 2006), da im Drogenmilieu multipler Substanzkonsum überwiegend die Regel ist. In den Familien entwickelt sich eine Atmosphäre, die mit Devianz, Normverletzungen sowie Angst und Misstrauen zu tun hat. Das Familienleben findet im subkulturellen, oft kriminellen Milieu statt, was weitere Risikofaktoren für die Kinder mit sich bringt, die im Folgenden (Kap. 4.2) genauer dargelegt werden.