Träume und Suchtträume: Schon Platon (ca. 370 v. Chr.) wusste, dass Träumen ist, wenn der wilde Teil der Seele seine Triebe zu befriedigen sucht. Siegmund Freud stellte Träume statt Hypnose in den Mittelpunkt der Psychoanalyse und sah in ihnen einen zentralen Zugang zum unterbewussten seelischen Geschehen. Die geheimen Wünsche genauso wie die tiefsten Ängste können in Träumen am besten erkannt werden. Aber in der oft nicht einfach zu dechiffrierenden Bilder- und Symbolwelt. Vielleicht war es gerade diese Dominanz des Themas „Träume“ in der Psychoanalyse, die modernen Psychotherapeuten die Relevanz von Träumen nicht erkennen ließ. Gerade Verhaltenstherapeuten und Suchttherapeuten arbeiten erstaunlich selten mit den Träumen ihrer Patienten.
Inhaltsübersicht
Drug Dreams – Die Spuren des Drogenkonsums in Träumen
Der Terminus „drug dreams“ wurde erstmals 2001 von Brian Johnson im Journal of the American Psychoanalytic Association verwendet. Johnson definierte Drogenträume als Träume, in denen mindestens eine Person „high“ wurde oder diese Person auf der Suche nach Drogen war beziehungsweise diese erwarb. Dies führt oftmals dazu, dass die Betroffenen während des Traums und nach dem Erwachen mit starken Emotionen konfrontiert waren. Naheliegend war es dann, dass die Träume von Suchtkranken und Abhängigen in den Fokus rücken. Schließlich entwickeln sie durch den oft jahrelangen Alkohol- und Drogenkonsum ein besonders intensives Verhältnis zu den Substanzen, den Konsumumständen und –wirkungen, aber auch den langfristig negativen Folgen.
Nach Studien des italienischen Sucht- und Traumforschers Claudio Colace (2014) sind es nur knapp 15% der Suchttherapeuten, die sich aktiv um die Träume ihrer Patienten kümmern. Dabei gibt es viel zu entdecken.
Was sind Suchtträume?
Unter Suchtträumen werden Träume verstanden, in deren Verlauf die träumende Person entweder vom Konsum, der Beschaffung oder den Umständen und Folgen des Drogenkonsums träumt. Diese Art der besonders intensiven „drug dreams“ tritt bevorzugt bei Menschen auf, bei denen eine langjährige Suchtmittelabhängigkeit vorliegt. Die Träume spiegeln ihre speziellen Erfahrungen und Biographien wieder und sollten daher auch Teil der Therapie sein.
Suchtträume sind allzu oft Alpträume
Meist wird im Traum sehr realistisch und wirklichkeitsnah in lebendigen, emotional intensiven Bildern vom Substanzkonsum geträumt. Die allermeisten Betroffenen berichten, dass ihre Träume abrupt enden, wenn die Substanzwirkung nach geträumter Einnahme nicht eintritt. Es deutet vieles daraufhin, dass das Gehirn an dieser Stelle den Unterschied zwischen Traum und Realität erkennt. Infolgedessen kommt es somit zum abrupten Wachwerden.
Auch besonders aversive oder traumatische Ereignisse im Kontext des Konsums, die im Traum wieder auftauchen, führen öfter zum abrupten Aufwachen. Viele der Suchtträume werden also als Alpträume erlebt.
Wenig Forschung – großes Potential
Bislang sind Suchtträume nur selten Gegenstand von psychologischer Forschung gewesen, wie auch der international renommierte Sucht- und Traumforscher Claudio Colace betont. Dass dies nicht gerechtfertigt ist, zeigt die Tatsache, dass mehr als 75% aller Suchtkranken Suchtträume erleben. Am häufigsten geschieht dies in der Entzugsphase oder zu Beginn einer Therapie Dies ist ein Zeichen dafür, dass das Gehirn sich noch intensiv mit den Drogen und der Drogenabstinenz auseinandersetzt. Die Suchtträume lassen dann im Verlaufe einer Therapie meist kontinuierlich nach, können aber bei unbewusstem oder bewusstem Drogenverlangen („craving“) wieder zunehmen. Aus den wenigen entsprechenden Studien geht hervor, dass viele Betroffene Schuld-, Angst- und Panikgefühle noch während des Traumes erlebten. Diese Emotionen hielten dann im Wachzustand zunächst an. Andere berichteten auch vom Drang, die Droge konsumieren zu müssen. Nach dem Aufwachen und der Erkenntnis der realen Situation hielt dieser Drang oft an oder verstärkte sich noch.
Da sich aber nur sehr wenige Suchttherapeuten bislang proaktiv mit den Träumen ihrer Patienten auseinandersetzen (danach fragen, sie mit dem Patienten reflektieren, nach Bedeutungen fragen), bleiben viele Suchtträume geheim und unbearbeitet. Colace (2014) berichtet in einer Studie, dass in nur etwa 11% aller Therapieeinrichtungen Suchtträume in der Behandlung genutzt werden.
Inhalte der Suchtträume
Die meisten Suchtträume fokussieren auf einen stattfindenden Drogenkonsum. Sie sind also nicht irreal oder haben gar halluzinogene Inhalte. Dabei werden meist in dem Traum die üblichen Hotspots zum Erwerb der Drogen, die persönlich bekannten Drogendealer und die ritualisierte Konsumsituation – alleine oder mit anderen – gesehen. Scheinbar ganz realistisch und in wirklichkeitsnahen Bildern. Da Traumbilder im Allgemeinen schon sehr emotionalisierend sein können, tritt dieser Effekt bei Suchtträumen auf. Nach Angaben vieler Befragter aber intensiver als in normalen Träumen, und dies dann mit Angst-, Schuld- oder Schamgefühlen. Sie fühlten sich dann beim Aufwachen in der Regel zunächst desorientiert und glaubten, alles, was sie geträumt hatten, sei real. In einem Fall suchte ein Patient nach der Heroinspritze, die er sich zuletzt im Traum appliziert hatte.
Drogenverlangen und Suchtträume – ein besonders enger Zusammenhang wird angenommen
Drogenverlangen („craving“) kann also durch Suchtträume induziert werden. Genauso wie Drogenverlangen solche Träume auch erzeugen kann. Ein möglicher kreisläufiger, rekursiver Prozess anzunehmen. Es handelt sich damit hier um einen fatalen Kreislauf zwischen bislang oft unterschätzten – weil intrapsychisch ablaufenden – Triggern. Leider ist die Studienlage in den Bezug auf den Zusammenhang zwischen Suchtträumen und realen Rückfällen bislang noch dürftig. Zahlreiche Kasuistiken scheinen einen solchen Zusammenhang aber zu bestätigen.
Suchtträume therapeutisch nutzen
Das große Potential von Suchtträumen für die Suchttherapie liegt für mich in der therapeutisch begleiteten Reflexion der Träume durch den Patienten. Es geht also nicht um die Deutung durch den Therapeuten. Deutungen können natürlich geschehen, sollten aber nicht im Vordergrund stehen. Gerade in der sensiblen Drogenentzugsphase sollten eher stabilisierende und strukturierende Interventionen im Vordergrund stehen. So kann es dem Patienten schon helfen, zu wissen, dass Suchtträume in dieser Phase häufig und üblich sind und dass es einen Versuch des Gehirns, speziell des Unbewussten, darstellt, die Vergangenheit zu verarbeiten. Suchtträume scheinen ein relevantes Potential zur Verstärkung psychotherapeutischer Maßnahmen zu besitzen und könnten die Therapie bereichern und optimieren. Ähnlich wie bei der Nutzung impliziter Kognitionen im Wachzustand – etwa beim neurokognitiven Kontrolltraining bzw. „cognitive bias modification“ CBM – können Suchtträume einen Zugang zum unbewussten Geschehen beim Suchtpatienten liefern und dieses beeinflussen.
Suchtträume therapeutisch induzieren?! – Die nächste Generation der Interventionen
Bis es zu einer systematischen therapeutischen Nutzung von Suchtträumen kommt, sind noch viele Anforderungen zu bewältigen. So sollte die Erfassung der Suchtträume in valider Art erfolgen, etwa durch Hinzuziehung von Traumtagebüchern. Die Schlaf- und Traumforschung müsste sich mit den neurobiologischen Grundlagen und Korrelaten von Suchtträumen befassen. Und im Sinne angewandter Therapieforschung gilt es, psychotherapeutische Wirksamkeitsstudien einer Suchttherapie mit und ohne Verwendung dieses Ansatzes als kontrolliert, randomisierte Studien (RCTs) durchzuführen.
Schließlich ist bei der therapeutischen Nutzung von Suchtträumen zu erproben, inwieweit Rückfallbewältigungsträume mit positiven Verläufen und andere Erfolgsinhalte aus der Therapie induziert werden können. Dadurch könnten die Bewältigungszuversicht und die Selbstwirksamkeitserwartung der Patienten – gerade in der sensiblen Anfangsphase der Therapie – gestärkt und möglicherweise sogar Rückfälle und Therapieabbrüche vermieden werden.
Verstärkte Nutzung von Träumen in der Suchttherapie
Den hier dargelegten Überlegungen und Studienresultaten folgend sollten Suchtträume – sowohl problem- als auch lösungsorientiert – stärker in der Behandlung von Suchtstörungen genutzt werden. Sie können offenbar viel über unbewusste, aber relevante, intrapsychische Prozesse mitteilen und den betroffenen Suchtkranken bei der Bewältigung von Ängsten auf der einen Seite und dem Aufbau von Änderungszuversicht auf der anderen Seite helfen. In jüngster Zeit berichten Suchtpatienten in Therapie häufiger von Suchtträumen unter den Bedingungen der Corona-Pandemie: Den Ängsten, keine Drogen mehr zu bekommen, die Erfahrungen von Einsamkeit und Isolation unter den Bedingungen des Lock-Downs, die Möglichkeit einer Infektion mit SARS-CoV-2 uvm. Dies ist natürlich nicht überraschend und unterstreicht die aktuelle Bedeutung der Nutzung dieses Zugangs in der Suchttherapie.