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Es bewegt sich etwas in Alkohol-Deutschland
Derzeit befindet sich Alkohol-Deutschland im Ausnahmezustand. Die Süddeutsche-Zeitung schreibt in ihrer Online-Ausgabe Nullachtneu (15.10.2020): „Erst keine Wiesn, dann auch noch Prohibition“. Dies entspricht vielleicht dem Münchner und alkoholdeutschen Volksgefühl. Schon vor einigen Wochen wurde ordnungspolitisch der Versuch unternommen, München nächstens trocken zu legen (siehe auch hier), der dann in seiner grenzenlosen Übertriebenheit final scheiterte. Die Realität für Alkohol-Deutschland ist wesentlich weniger dramatisch, nämlich: Es darf an sogenannten Hot-Spots, Orten mit hoher Infektionsinzdenz, von 22 oder 23Uhr (je nach Ort) an kein Alkohol mehr öffentlich ausgeschenkt oder verkauft werden. Doch die Alkohollage ist weniger dramatisch, als es aus berufenen Mündern behauptet wird. Merke: Ist Dir der Alkohol näher als des Volkes Wohl, dramatisierst Du die Alkoholdämmerung herauf. Aus Eigennutz.
Die Allverfügbarkeit des Alkohols wird eingeschränkt – zum ersten Mal seit über 70 Jahren
Bei uns handelt es sich um Jammern auf hohem Niveau, da allerorten Alkohol noch verfügbar ist, nur nicht mehr zu jeder Tageszeit und an jedem beliebigen öffentlichen Ort. Die Allverfügbarkeit in Bezug auf Alkohol ist tatsächlich etwas eingeschränkt und dies ist, was die letzten 70 Jahre der Realität der Republik betrifft, ein Novum. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ging es für die Alkoholindustrie und die Konsumenten nur in eine Richtung: aufwärts! Insofern ist es eine Besonderheit in der Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, dass der spätnächtliche Ausschank und Verkauf verboten werden.
Nüchtern betrachtet macht die Regierung beim Alkohol fast alles richtig
Nüchtern betrachtet stellt sich der Anlass für die Einschränkungen der Allverfügbarkeit des Alkohols wie folgt dar: Alkoholkonsum an sich erhöht das Infektionsrisiko für COVID-19 nicht. Problematisch ist der exzessive Konsum, die Alkoholintoxikation. Dies sollte in der öffentlichen Debatte nicht untergehen. Um die Einschränkung des exzessiven Alkoholkonsums in Deutschland bemüht sich die Suchtprävention seit Jahrzehnten mit bescheidenen Mitteln und mit bescheidenem Erfolg. Die Konsumprävalenzen steigen seit Jahren nicht mehr, sinken sogar, aber nicht wirklich drastisch. Insofern bietet die Corona-Pandemie die historisch einmalige Chance, Geschichte in Sachen Konsumreduktion und Gesundheitsförderung beim Alkohol zu schreiben. Und das tollste an der ganzen Sache: Es war regierungsseitig gar nicht intendiert, etwas Entscheidendes für die Suchtprävention zu tun. Es handelt sich also um eine Nebenwirkung. Aber da es Nebenwirkungen bisweilen in sich haben, machen sie das jetzige Geschehen ja gerade so interessant.
Sperrstunden, Ausschankverbote, Hot-Spot-Kontrolle und allerlei Verwaltungschaos
Am Ende verbessert die jetzige Situation möglicherweise die Chance auf das, was suchtpräventiv erwünscht und wirksam ist: Weniger exzessiver Konsum, mehr Gelegenheitskonsum und mehr Achtsamkeit beim Alkoholtrinken.
Nach nur einer Woche ist die Sperrstunde in Berlin und an etlichen weiteren Orten schon wieder Geschichte. Das Berliner Verwaltungsgericht erklärte in einer ersten Prüfung, die Sperrstunde halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Elf Gastronomen hatten sich dagegen gewandt und bekamen vorläufig Recht. Sie dürfen nach dem Beschluss nun auch nach 23 Uhr geöffnet bleiben, jedoch weiterhin ab diesem Zeitpunkt keinen Alkohol mehr ausschenken. Es sei nicht ersichtlich, dass die Sperrstunde für eine nennenswerte Bekämpfung des Infektionsgeschehens erforderlich sei, wohl aber das Verbot exzessiven Alkoholkonsums, begründete das Berliner Gericht seinen Beschluss am 16.10.2020.
Die Argumentation der Gastwirte lautete: Das Infektionsrisiko steige nicht ab einer bestimmten Uhrzeit, in Restaurants bleiben die Gäste auf ihren Plätzen sitzen, essen und trinken. Wenn die Gäste die Bars und Kneipen zu einer vorgezogenen Sperrstunde um 23 Uhr verlassen müssten, würden sie die Partys ins Private verlegen. Dort sei das Infektionsgeschehen schlechter kontrollierbar. Das Geschehen sei dann ohnehin riskanter. Das Berliner Verwaltungsgericht folgte zunächst 11 Kneipen- und Barbetreibern und hob die Sperrstunde auf. Das Ganze allerdings mit einem interessanten „Detail“: Nämlich, dass nach 23 Uhr kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden dürfe.
Nicht die Sperrstunde ist das Problem, sondern der Alkoholkonsum
Was den Alkoholkonsum an sich angeht, sehen die Richter dies durchaus problematisch: Wenn Alkohol getrunken werde, unterhielten sich Menschen auch lauter, lachten mehr und blieben auch länger zusammen, so die richterliche Argumentation. Und dies entspricht auch der empirischen Evidenz und wird als soziale Erleichterungsfunktion des Alkohols bezeichnet. Was vor Wochen noch als der Vorzug mancher Biersorten gerühmt wurde, ihre vorzügliche Drinkability (siehe https://www.addiction.de/drinkability/), die nämlich den Wunsch zum Weitertrinken erzeugt, verkehrt sich jetzt ins Gegenteil: Ja nicht weitertrinken, kontrolliert trinken, ist das Gebot der Stunde!
Der Alkoholausschank in München bleibt vorläufig ebenfalls nach der Sperrstunde verboten, da man offenbar zu viel soziale Enthemmung befürchtet. Es wird noch schwieriger werden, für die Wirte zu überleben. Es sei denn, es etabliert sich ein neues Ritual: Bis 22 bzw. 23 Uhr in den Wirtschaften viel und schnell trinken – nach altem englischen Modell – und danach sitzenbleiben und alkoholfreie Getränke genießen. Dafür gibt es jetzt schon Vorbilder in Europa.
Schottland – jetzt Hochburg des alkoholfreien Whiskeys
Die Corona-Pandemie könnte zum weltweit größten und erfolgreichsten Alkoholpräventionsereignis werden. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas. Schottland ohne Whiskey, seit Jahrhunderten undenkbar! Aber jetzt wird alles anders: Was Jahrzehnte von Suchtpräventionsbemühungen nicht vermocht haben, funktioniert auf einmal. Die Eindämmung des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum. Aber der Preis dafür könnte hoch sein (siehe letzten Abschnitt: Beruhigung der Massen). Übermäßiger Alkoholkonsum wird auch dort – wie derzeit in Europa überall – als Risikofaktor für die Ausbreitung des Virus gesehen. Diese Annahme stützt sich auf die bekannten enthemmenden und sozial förderlichen Wirkungen des Alkoholtrinkens auf das menschliche Verhalten.
In Schottland wurde noch vor den deutschen Großstädten der Alkoholkonsum mit Sperrstunden und Ausschankverboten eingedämmt. Das ist jetzt die Stunde des alkoholfreien Whiskeys. Geschmack ja, Wirkung nein. Alkoholfreier Whiskey ist schon an vielen Orten ausverkauft. Mal sehen, was passiert, wenn die Konsumenten merken, dass die geliebte Wirkung des Whiskeys ausbleibt, die soziale Enthemmung und die Glückseligkeit. Denn so weit langt die Placebowirkung der klassischen Konditionierung durch Geschmack und Geruch des alkoholfreien Whiskeys nicht.
Die neue Rolle des Alkohols
Alkohol gilt neuerdings als Risikofaktor für die Ausbreitung der Corona-Pandemie. Dabei zeigt die Gesundheitsforschung schon seit langem, dass Alkoholintoxikation der Risikofaktor schlechthin ist für viele unerwünschte Effekte im öffentlichen und privaten Leben. Verkehrsunfälle, physische und sexuelle Gewalt, Tramatisierungen, Schlägereien, Krebserkrankungen, Suizide, Depression, vorgeburtlich erworbene Behinderungen usw. Die negativen Folgen akuter Alkoholintoxikation und chronischen Alkoholmissbrauchs lesen sich wie das Drehbuch eines Horrorfilms. Aber ausgerechnet jetzt in der Pandemiebekämpfung verändert der große soziale Erleichterer und die gute Gabe Gottes (klassische Positivassoziationen zu Alkohol) sein Image. Oder besser: Das Image wird verändert.
Bei den jetzigen Alkoholeinschränkungen geht es um die sozialen Erleichterungsfunktionen, die der Alkoholkonsum mit sich bringt, die normalerweise begrüßt werden: Mehr Geselligkeit, mehr Gesprächigkeit, mehr Nähe. Wie schon durch die Social-Distancing-Maßnahmen, werden die urmenschlichen Vorlieben für soziale Nähe negativ stigmatisiert. Und dass die Alkoholwirkung sozial erleichternd und kontaktbeschleunigend wirkt, wird plötzlich zum Manko. Die Corona-Pandemie könnte im Umgang mit übermäßigem Alkoholkonsum das bewirken, was bislang keiner Präventionskampagne nachhaltig und verhaltensrelevant gelungen ist: Achtsamkeit und Sensibilität herzustellen und dabei die Kenntnisse über die Risiken des Alkoholtrinkens in der Öffentlichkeit deutlich erhöhen, so dass das Konsumverhalten sich ändert.
Das Problem: Die Doppelrolle des Alkohols in der Gesellschaft und im Leben von Menschen
Die aktuellen Entwicklungen werden vorübergehend zu einem Rückgang des Alkoholkonsums in Deutschland führen. Durch die Unterdrückung der sonst erwünschten sozial erleichternden Funktionen des Alkoholkonsums lassen sich Infektionen verhindern. Keine Frage. Auf der anderen Seite steht die Funktion des Alkohols zur Beruhigung der Massen. Dies ist schon seit über 4.500 Jahren bekannt. In Babylon wurden Alkoholgesetze erlassen, die es den Wirtinnen – Frauen in ihrer Funktion als Hausfrauen waren die Erfinderinnen von Kneipen – vorschrieben, obrigkeitslästerliche Gespräche betrunkener Gäste zu melden. Falls sie dies nicht taten, wurden sie mit einer grausamen Todesstrafe bedroht. In der Antike wurde dann die Beruhigung der Massen durch Brot, Wein und Spiele entdeckt und genutzt.
Diese ambivalente Rolle des Alkohols ist bis heute wichtig geblieben. Der niedrige Alkoholpreis, die Allverfügbarkeit der Substanz und die vielen Konsumorte haben auch die Funktion, die Menschen zu sedieren, rebellische Impulse zu ersticken und die Kontrolle über sie zu behalten. Daher sind Einschränkungen in der Allverfügbarkeit des Alkohols für die Obrigkeit immer riskant. Aber heutzutage gibt es als Kompensationsbereiche noch die Spiele – dies sind die allgegenwärtigen Medien -, um die Massen zu beruhigen. Die Rolle als Buhmann wird der Alkohol nicht lange behalten. Dafür sind die Wirkungen des übermäßigen Alkoholkonsums viel zu intensiv und wichtig für das individuelle Sozialverhalten und „Wohlergehen“ und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Aber etwas mehr alkoholkritische Grundhaltung in der Bevölkerung wäre schon ein relevanter Fortschritt. In diesem Sinne: Ein häusliches Prosit an alle Leserinnen und Leser! Und wenn es ganz schlimm kommt, steht schon die Bier-Partei bereit, ihre Interessen zu vertreten, jedenfalls in Österreich und Polen und sicher bald auch in Deutschland. Bierkonsum zu jeder Tageszeit und an jedem Ort als Grundrecht, wird im Programm gefordert.
Buchhinweis: Schlieckau, Jürgen (2015). Kompendium der deutschen Alkoholpolitik. Hamburg: Disserta Verlag.