Viele Suchtkranke haben Probleme mit belastenden Gefühlen, können mit Emotionen wie Wut, Zorn, Ärger, Einsamkeit oder Traurigkeit nicht konstruktiv umgehen und werden von derartigen Gefühlen immer wieder geradezu überflutet. Häufig spielte dieses Gefühlschaos schon bei der Entstehung der Suchtkrankheit eine wichtige Rolle. Oft führt der Zustand der Emotionsüberflutung zu Kontrollverlust und Ohnmachtserleben (Ohnmachtsgefühle, Subtanzkonsum und Sucht (Sucht und Emotionen #8)). Eine Emotionsregulation gelingt nicht oder schlecht, weil die Vermeidung der Wahrnehmung der entsprechenden Gefühle dominiert. Die betroffenen Personen erleben ihren Zustand als unkontrollierbar und sehen sich einem Chaos von Gefühlen ausgeliefert. Das kann schnell zu Aggression oder Depression, bei Suchtkranken aber auch zu Rückfällen führen. Die internationale Rückfallforschung (insbesondere von Prof. Alan Marlatt) hat immer wieder gezeigt, dass belastende, als negativ erlebte, Emotionen die häufigsten Rückfallauslöser darstellen. Deshalb ist der Umgang mit Gefühlschaos gerade bei Sucht zur dauerhaften Bewältigung und Rückfallvermeidung besonders wichtig.
Inhaltsübersicht
Jungen und Männer als Risikogruppe für emotionsbedingte Suchtstörungen
Bei Männern treten Aggressionen gegen andere oder sich selbst, kombiniert mit Depression und Selbstabwertung, im Vorfeld und im Verlauf von Suchterkrankungen besonders häufig auf. Wenn man die Entwicklung von Jungen zu Männern betrachtet, werden diese oft unterwiesen, ihre Gefühle zu unterdrücken und sich nicht weiter mit ihnen zu beschäftigen. Dies gilt nach wie vor auch für viele Jungen und jüngere Männer. In der jüngeren Männergeneration herrscht eine starke Ambivalenz zwischen traditionell gefühlsunterdrückend erzogenen Männern – oft aus migrantischen Kontexten – und übermäßig ängstlichen und mütterlich verwöhnten Männern. Beide Formen im Umgang mit Emotionen sind problematisch und können mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu psychischen Problemen führen. Ein ausgewogener, zu Selbstsicherheit und gesunder Stärke führender Erziehungsstil ist anzustreben. Wie können Selbstbewusstsein und die richtige Balance im emotionalen Bereich bei Menschen gelingen, um eine spätere Suchterkrankung unwahrscheinlich zu machen. Das Thema betrifft natürlich Männer und Frauen insgesamt. Darum geht es im Folgenden.
Zu wenig über die eigenen Gefühle gesprochen
Während Mädchen sich in ihrer Entwicklung sehr oft miteinander über ihre Gefühlslagen verbal austauschen, ist dies für Jungen ungewöhnlich und selten der Fall. Wie die entwicklungspsychologische Geschlechterforschung eindrücklich zeigt, sind Mädchen tendenziell eher gefühlszentriert und Jungen eher lösungszentriert. Dies bringt für Männer den Nachteil mit sich, dass sie weniger geübt sind, über ihre Gefühle differenziert Bescheid zu wissen und offen darüber sprechen zu können, besonders mit den ersten Freundinnen und später mit einer Partnerin. Auch in psychischen Krisen und chronischen Stresszuständen ist es hilfreich, über seine Emotionen reflektiert sprechen zu können. Wenn jemand zu selten über seine Gefühle gesprochen hat, fehlen oft die Werkzeuge, um innere Konflikte zu sortieren. Das führt nicht selten zu einem Gefühl von Überforderung – also: Gefühlschaos.
Frühe emotionale Wunden
Der Mensch braucht sichere und verlässliche Bindungen zur psychisch gesunden Entwicklung, ganz besonders in der Kindheit. Denn gerade Kinder suchen immer wieder Schutz und Verlässlichkeit, wie auch Zugehörigkeit und Freude. Sie sind – bei allen vorhandenen Stärken – noch sehr verletzliche Wesen. Werden die Bedürfnisse nach Geborgenheit, Annahme und Unterstützung in der Kindheit oder auch später nicht gestillt oder erfährt der Mensch sogar Gewalt, führt dies zu emotionalen Mangelzuständen oder Wunden, die ihn bis ins Erwachsenenalter begleiten können. Kinder von Suchtkranken als größte Risikogruppe für spätere Suchtstörungen haben oft viele emotionale Wunden erlitten, sei es Missbrauch und Misshandlung oder elterliche Unberechenbarkeit, emotionale Kälte und Vernachlässigung. Sie lernen dann sehr früh, ihre Gefühle zu verstecken, nicht zu äußern oder am Ende gar nicht mehr bewusst zu spüren.
Suchtmittel lindern dann ab der Jugend verlässlich unangenehme Gefühle wie Angst, Scham, Traurigkeit oder andere Formen seelischen Schmerzes. Besonders emotional früh verletzte Kinder und Jugendliche nutzen diesen Mechanismus. So entwickeln sich Abhängigkeitserkrankungen oft auf dem Boden emotionaler Verletzungen oder stark unterdrückter Gefühle. Um eine Abhängigkeit zu bewältigen, ist es wichtig, die frühen emotionalen Wunden zu lindern und die unbefriedigten Bedürfnisse aus der Vergangenheit auf neue, gesündere Weisen zu stillen.
Aktuelle Gefühle – alte Wunden – übermächtige Gefühle
Aktuelle Gefühle informieren den Menschen über seine Bedürfnisse und Defizite. Sie geben ihm die Motivation, wie er diese erfüllen kann. Sie helfen ihm, selbstfürsorglich zu leben und beeinflussen sein Handeln, oft ohne dass es bewusst wahrgenommen wird. Emotionale Verletzungen und Wunden aus der Kindheit färben nicht selten auf das aktuelle Erleben ab. Diese alten Gefühle legen sich dann wie ein großes Tuch über die aktuelle Situation und lassen alles in einem negativen Licht erscheinen. So können in Krisen- und Stresssituationen auch psychische Störungen entstehen oder sich verstärken, insbesondere Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Übermäßiger Substanzkonsum ist der Versuch, diese Gefühle weiterhin abzuwehren, diesmal durch Betäubung, wenn die anderen Mechanismen der Abwehr nicht mehr funktionieren.
Dann wird es wichtig, neue Wege der Problemlösung und Stressbewältigung unter Einbeziehung des emotionalen Erlebens zu erlernen und einzuüben. Auch eine gründliche Selbstreflektion und biographische Aufarbeitung können helfen. Dies kann mit psychotherapeutischer Hilfe und Unterstützung gelingen. Gefühle beinhalten in einem tieferen Sinne Kraft und Weisheit, um das Leben zu führen und in Krisensituationen neu auszurichten, wenn man diese zu lesen versteht und ihren Botschaften folgt.
Gefühle, Gefühlskarussell und Gefühlschaos
Gerade wenn Menschen in Lebenskrisen geraten oder dauerhaft starkem Stress ausgesetzt sind, treten oft kurz hintereinander oder auch gleichzeitig starke Gefühle auf, die sehr belastend sein können. Bei Ungeübtheit, mangelnden vertrauensvollen Kontakten und depressiven Reaktionen können diese starken und zahlreichen Gefühle schnell zu einem Gefühlskarussell, das den Einzelnen schwindelig macht, bis zu einem überfordernden Gefühlschaos führen.
In Krisen- und Stresssituationen entstehen starke, intensive Gefühle – wie Zorn, Ärger, Wut, Unsicherheit, Enttäuschung (Enttäuschung – eine bittere und lehrreiche Emotion (Sucht und Emotionen #6)), Einsamkeit (vgl. Einsamkeit und Sucht: Einsame Menschen mit Suchterkrankung – Suchtkranke mit Einsamkeitsproblemen) und Angst (vgl. Angst und Sucht (Sucht und Emotionen #13)) – oft im schnellen Wechsel oder gleichzeitig auf und sorgen auch körperlich für starke Symptome wie Schwindel, Bauchschmerzen oder Zittern. Physiologisch handelt es sich um sehr starke Erregungsimpulse, die den Körper länger mit Stresshormonen überfluten. Dies führt zu einer Notfallreaktion, die dann jedoch nicht aufhört und zum Dauerzustand wird. Die Verwirrung wird immer stärker, Angst und Panikgefühle nehmen zu.
Emotionen sind nicht automatisch negativer oder positiver Art. Das werden sie erst durch die Bewertungen im intrapsychischen System, speziell durch die Großhirnaktivität des Reflektierens, Einordnens und Orientierens. Dann können Emotionen als negative oder positive Gefühle wahrgenommen werden. Die Ursprungsaufgabe der Emotionen in der Evolution war, den Lebewesen Orientierung im Leben und Alltag zu geben. Das Emotionssystem kann dafür genutzt werden, Gefahren zu erkennen, Orte der Freude und Möglichkeiten der Befriedigung zu finden uvm. Im modernen Alltag überlagern und vermischen sich diese Funktionen oft und sind nicht immer eindeutig zu identifizieren, vor allem bei komplexen Emotionen wie Neid, Ärger, Enttäuschung usw. Es ist auch selten ein einziges klar identifizierbares Gefühl, das einen Menschen anhaltend quält, sondern meist eine komplexe Gemengelage eines „Gesamtgefühls“, das dann als Gefühlschaos wahrgenommen wird. Erst durch Nachdenken und Reflektion lässt es sich in Einzelgefühle zerlegen und genauer verstehen.
Ein Gefühlschaos entsteht, wenn viele verschiedene, oft widersprüchliche Gefühle gleichzeitig oder in schneller Abfolge auftreten – und man Schwierigkeiten hat, sie zu verstehen, zu sortieren oder zu verarbeiten. Es fühlt sich dann oft an, als würden „die Gefühle Achterbahn fahren“ oder „alle durcheinanderreden“.
Was ist ein Gefühlschaos?
Ein Gefühlschaos ist kein krankhafter Zustand, sondern ein Signal, dass im Inneren des Menschen viele emotionale Prozesse gleichzeitig ablaufen. Typische Merkmale eines Gefühlschaos sind:
- Gefühle wie Traurigkeit, Wut, Enttäuschung, Angst oder Scham wechseln sich schnell ab oder überlagern sich.
- Man ist innerlich zerrissen und konfus, weiß nicht, was man wirklich fühlt oder will.
- Die vielen Gefühle sorgen für Angst und völlige Verwirrung.
- Man fühlt sich überfordert, verwirrt, gelähmt und innerlich aufgewühlt. Der Körper rebelliert mit Schmerzen und Schwindel, ist aufgeregt und gestresst.
- Handlungen und Entscheidungen fallen schwer oder sind ganz unmöglich. Man verfällt in Schockstarre.
- Man hat den Eindruck, sich selbst oder die Kontrolle zu verlieren, was das Gefühlschaos noch weiter verstärkt.
- Oft entwickelt sich ein Drang nach Beruhigung, der durch Substanzkonsum befriedigt wird.
Wie entsteht ein Gefühlschaos?
Ein Gefühlschaos kann durch verschiedene Auslöser entstehen. Am häufigsten sind dies:
- Krisen oder belastende Lebensereignisse: Trennung, Verlust, Krankheit, Migration, beruflicher Stress oder andere einschneidende Erfahrungen können viele Gefühle gleichzeitig auslösen (z. B. Trauer, Wut, Schuld, Angst, Erleichterung).
- Innere Konflikte: Wenn man sich zwischen zwei Dingen nicht entscheiden kann oder verschiedene Bedürfnisse in einem selbst miteinander im Streit liegen.
- Überforderung: Wenn zu viele Eindrücke oder Aufgaben auf einmal kommen, kann es schwer werden, die eigenen Gefühle zu sortieren. Dies führt zu einer Überlastung des kognitiven Systems, das möglicherweise noch zusätzlich durch Abwehrmechanismen und Ungeübtheit überfordert ist.
- Unterdrückte oder lange ignorierte Gefühle: Wenn man lange nur noch funktioniert hat und kritische Gefühle nicht zugelassen wurden, können sie sich irgendwann explosiv bei einem kleinsten Auslöser plötzlich Bahn brechen.
- Hormone oder psychische Erkrankungen: Auch körperliche oder psychische Faktoren (z. B. Depressionen, Angststörungen, Pubertät) können emotionale Verwirrung verstärken. Dies kann zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Überforderung führen.
- Im Falle einer Suchtkrankheit kann auch ein drohender oder vollzogener Rückfall für Gefühlschaos sorgen.
Was hilft Suchtkranken bei Gefühlschaos?
- Innehalten und atmen: Bei emotionaler und körperlicher Anspannung und Übererregung ist es wichtig, zunächst zur Ruhe kommen und für Entspannung zu sorgen, bevor man handelt. Deshalb zuerst: innehalten und regelmäßig atmen!
- Gefühle aufschreiben oder aussprechen: Sortieren der Gedanken und des Erlebens hilft beim Verstehen. Ein Tagebuch, ein Gespräch oder kreative Methoden sind entsprechende Ansätze.
- Körper wahrnehmen: Bewegung, Achtsamkeit oder Atemübungen helfen, sich zu zentrieren. Auch sich körperlich mit Sport auszupowern und dann gezielt zu entspannen, kann den Kopf frei machen, so dass sich Gedanken und Gefühle sortieren können.
- Struktur schaffen: Kleine Schritte sind besser als große Schritte, die schnell überfordern. Unterteilen Sie das Große, das unüberwindlich erscheint, in kleine Portionen. Die sind leistbar und obendrein auch psychisch besser verdaulich. Sich klare, überschaubare Prioritäten zu setzen, schafft Struktur und Übersicht. So werden Probleme eher lösbar.
- Externe Unterstützung und Hilfe suchen: Gespräche mit Freunden, einem Psychotherapeuten oder Suchtberater, mit der Suchtselbsthilfegruppe oder mit anonymen Krisendiensten (Telefonseelsorge unter 0800-1110111 oder 0800-1110222) können helfen.
Zum Schluss: Eine konkrete Hilfe als Übung für Dich zur Bewältigung des Gefühlschaos
Die Übung heißt: Das innere Gefühlsrad
Ziel:
Gefühle benennen, sortieren und besser verstehen. Dadurch entsteht mehr Klarheit über das innere Erleben und die notwendigen Handlungen.
🔹 Schritt 1: Ruhe finden
Setz dich bequem hin! Schließe, wenn du magst, kurz die Augen und atme einige Male tief ein und aus! Spüre in aller Ruhe in dich hinein!
Wie geht es mir gerade? Was ist in mir los? Gerade, wenn Du bislang eine solche Ruhe nicht geübt und gefunden hast, ist es jetzt wichtig, diesen Schritt zu gehen.
🔹 Schritt 2: Gefühlswörter sammeln
Nimm ein Blatt Papier (oder Karteikarten) und schreibe alle Gefühle auf, die du gerade in dir spürst – ohne sie zu bewerten oder zu erklären! Zum Beispiel: traurig, wütend, erleichtert, leer, unsicher, hoffnungsvoll, genervt, überfordert, frustriert, neugierig usw.
Wenn dir die Worte fehlen, kannst du auch eine Liste mit Gefühlswörtern (z.B. unter dieser Webseite) zur Hilfe nehmen. Oder schau dir auf Mens Mental Health die Beiträge aus der Reihe „Männerrat“ an.
Diese Übung wird Dir am Anfang vielleicht schwer fallen. Mache Sie gerade deshalb besonders sorgfältig und ausführlich!
🔹 Schritt 3: Gefühlsrad zeichnen
Zeichne einen Kreis auf ein Blatt Papier und teile ihn wie eine Torte in so viele Stücke, wie du Gefühle notiert hast! Schreibe in jedes Feld eines deiner aufgelisteten Gefühle!
Dann:
- Male jedes Feld unterschiedlich stark aus, je nachdem wie intensiv dieses Gefühl gerade ist (je mehr Farbe, desto stärker das Gefühl)!
- Wenn du magst, kannst du Farben wählen, die für dich zu dem jeweiligen Gefühl passen. So kann „rot“ gut zum Gefühl der Wut passen.
Betrachte dann Dein Gefühlsrad und nimm die Gedanken und Gefühle bewusst wahr, die in Dir aufsteigen! Sprich mit einer Person Deines Vertrauens darüber! Wenn Du niemanden hast, suche Dir einen Psychotherapeuten, dem Du vertraust!
🔹 Schritt 4: Reflexion
Beantworte für dich (oder im Gespräch) folgende Fragen!
- Welche Gefühle sind in Dir derzeit am stärksten?
- Gibt es Gefühle, die im Widerspruch zueinander stehen?
- Gibt es ein Gefühl, das besonders viel Raum braucht – oder das Du gern besser verstehen möchtest?
- Wenn Du Verlangen nach Suchtmitteln spürst, mach Dir klar, dass dies keine gute Lösung ist und Du bessere Wege finden kannst und wirst!
🔹 Schritt 5: Nächster Schritt
Überlege:
👉 Was tut mir jetzt gut?
👉 Möchte ich über ein bestimmtes Gefühl mit jemandem sprechen?
👉 Welches Gefühl braucht vielleicht einfach nur Raum, ohne dass ich etwas „tun“ muss?