Mit Seneca und Marc Aurel abstinent bleiben?! (Sucht und Rückfall #2)

Viele Suchtkranke haben Angst vor einem Rückfall, sobald sie Abstinenz erreicht haben. Jeder Suchtkranke sollte sich im Genesungsprozess mit den Risiken und Auslösern eines möglichen Rückfalls auseinandersetzen. Das Kennen möglicher Risikosituationen und die Steigerung der Bewältigungskompetenz sind schon lange feste Säulen in der Rückfallprävention (vgl. Rückfall: 10 Tipps für richtiges Verhalten vor und danach). Sogar Albträume häufen sich in der ersten Zeit (Suchtträume – die vergessene Welt der Suchtkranken) nach Beendigung des süchtigen Konsums, so dass auch ihre Bearbeitung Teil der Rückfallprävention ist. Die gesellschaftlichen und individuellen Krisen – von Corona über Klima und Krieg bis zu Arbeitslosigkeit und Zukunftssorgen – belasten zusätzlich. 

Für die dauerhafte Bewältigung der Sucht braucht es einen Mindset der inneren Klarheit und Gelassenheit (vgl. Gelassenheit (Sucht und Emotionen #2)). Alles therapeutischen Ansätze und die Suchtselbsthilfegruppen betonen die wichtige Rolle der Gelassenheit (Gelassenheit (Sucht und Emotionen #2)) im Abstinenzprozess. Aber was bedeutet das und woher kommt diese Idee? Bei einer tieferen Recherche gelangt man schnell zur philosophischen Schule der Stoa und ihren Konzepten. Im Mittelpunkt der jahrtausendealten Lehre stehen die Tugenden Mut, Weisheit, Selbstdisziplin und Gerechtigkeit. Diese werden als die stoischen Tugenden bezeichnet. Ein innerer Gleichmut (Wie Gleichmut bei Sucht und gegen Rückfälle hilft (Sucht und Emotionen #11)), nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, kann bei der Bewältigung schwerer Krisen als kleiner Bruder der Gelassenheit ebenfalls sehr hilfreich sein. 

Mit Veränderungen im Leben umgehen – für die Genesung von Sucht besonders wichtig

Veränderungen im Leben („Zeitenwenden“) gibt es immer wieder, ja muss es sogar geben. Sie zu bewältigen, ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe für alle Menschen. Bei Suchtkranken ist die Zeitenwende der Abstinenz besonders tiefgehend und existentiell bedeutsam. Neben vielen wichtigen konkreten Hinweisen zur Rückfallprävention (Rückfall: 10 Tipps für richtiges Verhalten vor und danach) werden im Folgenden allgemeine Hinweise zur Lebensführung, zum Mind Set und der inneren Haltung gegeben. Schon die griechischen Philosophen der Antike wussten um die vielfältigen Krisen und Anforderungen im menschlichen Leben und entwickelten durch Nachdenken und Reden beim Wandeln durch die Säulenhalle (= Stoa) die praktische Philosophie des Stoizismus, der sich von Anfang an und bis heute auf die allgemeine Lebensführung und die innere Haltung bezog. 

Eine jahrtausendealte geistige Haltung mit Akzent auf Realismus, Mut und Gerechtigkeit kann helfen, einen Kompass durch stürmische Zeiten zu finden. Diese Haltung findet sich im Stoizismus, verbunden seit 250 Jahren mit dem Geist der Aufklärung. 

Grundprinzipien des Stoizismus – ein Lebensprinzip für das 21. Jahrhundert!

Für die Stoiker ist der Sinn des Lebens nicht Reichtum oder Ruhm, sondern Tugend und innere Lebenszufriedenheit. Die zentralen Tugenden für ein gelingendes, sinnvolles Leben sind:

  • Weisheit (klug urteilen)
  • Gerechtigkeit (fair handeln)
  • Mut (das Richtige tun trotz Angst)
  • Mäßigung (im Gleichgewicht ohne Exzesse leben)

Eine sinnvolle Zukunft im Leben entsteht demnach durch ein tugendhaftes Leben – unabhängig von äußeren Umständen. Dies gilt besonders nach Zeiten der Selbsttäuschung, des psychischen Selbstbetrugs und der inneren und äußeren Lüge (Sind Suchtkranke Lügner? – Einsichten und Hilfsmöglichkeiten für Betroffene und Angehörige). Die Verwirklichung der stoischen Haltung und ein Leben nach den stoischen Tugenden führen zu innerer Ausgeglichenheit und Zufriedenheit. Für den modernen Menschen sind diese Tugenden wichtiger denn je. Denn die Beeinflussungen und Manipulationen der Gegenwart gefährden seine psychische Gesundheit immer mehr. Sie prädestinieren ihn auch besonders zu Suchtkrankheiten, sowohl zu Substanzsüchten als auch zu Verhaltenssüchten. Um diese allgemeinen und spezifischen Stressfaktoren im Leben zu bewältigen, können sich genesende Suchtkranke die uralten Ideen des Stoizismus, ergänzt um neue Erkenntnisse der Psychologie und Gehirnforschung, zu Nutzen machen. Daraus entsteht ein wertvolles Prinzip für das suchtfreie Leben im 21. Jahrhundert

Stoisch denken und handeln – für nachhaltiges Wohlbefinden im Alltag 

Gerade aufgrund der Stressoren in der modernen Welt ist das Anstreben von Wohlbefinden besonders wichtig. Viele stoische Philosophen haben sich mit dem psychischen und körperlichen Wohlbefinden der Menschen beschäftigt, so auch der römische Kaiser Marc Aurel und der Erzieher des Kaisers Nero, Seneca. Die sieben wichtigsten stoischen Prinzipien zur alltäglichen Lebensführung sind: 

1. Gesunde Ernährung

Die Ernährung hat einen großen Einfluss auf unser Befinden. Eine entsprechende gesunde Ernährung kann die Konzentration und das Durchhaltevermögen verbessern, bei Stress das Denkvermögen und den Blutzuckerspiegel regulieren und für bessere Durchblutung des Gehirns sorgen. Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Eiweiß (auch in Nüssen, Fisch, gelegentlich Fleisch, Eiern und anderen Proteinträgern) sind zu empfehlen. Interessanterweise dürften sich die stoischen Philosophen, die ja im Mittelmeerraum lebten, selbst schon entsprechend mediterran ernährt haben. Die mediterrane Ernährung gilt als besonders gesund und förderlich für Wohlbefinden und Langlebigkeit. Für den Suchtkranken ist gesunde Ernährung, mit viel Wasser, ein guter Weg zum inneren Gleichgewicht und zum Aufbau von Selbstdisziplin. Auf Dauer wird man diese Ernährungsweise nicht mehr missen wollen und sie allen anderen Angeboten vorziehen. 

2. Ruhe und Entspannung

Ein ausreichendes Maß an Ruhe ist besonders im heutigen Alltag wichtig. Dies gilt für alle Menschen, für Suchtkranke im Genesungsprozess noch um ein Vielfaches mehr. Marc Aurel empfahl schon in seinen berühmten „Selbstbetrachtungen“ das, was heute als „Power-Nap“ bekannt ist: Einen 20- bis 25- minütigen Schlaf am Mittag. Vor allem geht es jedoch um einen gesunden Schlaf. Dieser besteht aus einer positiven Schlafhygiene (kein Kaffee, kein Licht, keine elektronischen Geräte, frische Luft, ruhige Umgebung) und festen Schlafrhythmen. Wie wir heute wissen, ist der gesunde Schlaf auch wichtig für Körpergesundheit (gegen Adipositas und Bluthochdruck) und psychische Gesundheit (gegen Depression und Sucht). Zur Rückfallprophylaxe ist der gesunde Schlaf von hoher Bedeutung und sollte auf jeden Fall angestrebt werden. Dadurch können nicht nur Wachheit, sondern auch geistige Klarheit und Ausgeglichenheit erreicht werden.

3. Frieden und Freundschaft mit der Natur

Das Leben im Einklang in und mit der Natur ist für den Stoiker besonders wichtig. Dazu gehören Spaziergänge und Wanderungen, also viel Aufenthalt in der Natur, frische Luft und Sonnenlicht. Achtsame Beziehungen zu den Mit-Kreaturen sind von hoher Wichtigkeit, um das Leben und die Natur zu erleben und wertzuschätzen. All dies kann zu besonderer geistiger Klarheit, Wohlbefinden und Ausgeglichenheit führen. Für das Leben mit Abstinenz bietet die Natur besonders viele Möglichkeiten der Gestaltung, ob mit Tieren oder Pflanzen oder durch den täglichen Genuss im Freien.

4. Wasser ist Leben 

Der menschliche Körper braucht ausreichend Flüssigkeit. Genügend Wasser zu trinken, ist wichtig, um nicht zu dehydrieren, die Konzentration aufrecht zu erhalten und die Körperkräfte zu erhalten. Bei mangelnder Flüssigkeitszufuhr droht eine Trübung des Geistes, es entstehen Trugbilder und die Lebendigkeit der Gedanken lässt nach. Neben Getränken wie Kaffee und Tee steht Wasser als gesundes Lebenselixier der Mäßigung im Vordergrund. Diese Bedeutung kann es durch achtsames Genießen im Prozess der Genesung von Sucht ganz intensiv einnehmen. Die modernen Softgetränke, die extrem viel Zucker und auch immer mehr Koffein enthalten, vernebeln den Geist und sorgen für einen kurzfristigen Energie-Kick, der dann vom Verlangen nach Wiederholung und insofern einem Immer-Mehr gefolgt wird. Dadurch entsteht ein suchtartiger Ersatzprozess. Dies ist abzulehnen. Genussvolles, achtsames Konsumieren gesunder Getränke ist möglich und wichtig. Die Vielfalt der Mineralwässer, die besonders in Deutschland zur Verfügung stehen, ist eine wunderbare Basis für ein gesundes stoisches Leben. 

5. Bewegung ist nützlich und fördert den Geist

Viele antike Philosophen betonen die Bedeutung von Bewegung und Veränderung. Körperliche Beweglichkeit hilft der mentalen Beweglichkeit und umgekehrt. So kann es jedenfalls sein. Schon beim vorsokratischen Philosophen Heraklit heißt es: Alles fließt. So steht auch der Mensch im Fluss des Lebens. Er soll sich nicht hinwegreißen lassen, aber sich auch nicht gegen übermäßige Kräfte anstemmen. „Nur wer sich ändert, bleibt sich gleich“, ist ein für diese Sichtweise typischer Leitsatz. Für die Stoiker ist körperliche und geistige Bewegung essentiell. Es geht dabei im geistigen Bereich nicht um Beliebigkeit, sondern um die richtige, vernünftige innere Sichtweise auf die Ereignisse der Welt und des Lebens. Der Körper soll dabei den Geist nicht belasten, so dass Bewegung und Fitness wichtig sind. Keinesfalls darf er vernachlässigt werden. Das Ziel von allem ist geistige Klarheit, innere Ruhe und Gelassenheit (vgl. Gelassenheit (Sucht und Emotionen #2)). Körperliche Bewegung begünstige die geistige Flexibilität und psychische Gesundheit. Genügend geistige und körperliche Beweglichkeit – so die Erkenntnis heute – sorgt für innere Stabilität. Im Prozess der Abstinenzwerdung und bei der Rückfallprävention spielt Bewegung eine so wichtige Rolle, weil sie den Geist von den substanz- und rückfallbezogenen Phantasien ablenkt und zu anderen Zielen fliegen lässt.

6. Meditation beruhigt den Geist

Meditation ist eine uralte Methode, den Geist zur Ruhe zu bringen. Sie wirkt sich auf den gesamten Organismus aus, sorgt für Stressreduktion und Wohlbefinden. Meditation kann durch Gebet, Yoga, Zen, Vipassana, Exerzitien und auf vielen anderen Wegen stattfinden. Der einfachste Zugang zu Meditation ist das Atmen. Ruhiges, tiefes Atmen schafft schafft schon Beruhigung. Die Konzentration sollte sich dabei ganz auf das Ein- und Ausatmen richten. Dieses achtsame Atmen schafft schon nach kurzer Zeit mehr innere Ruhe und Klarheit. Diese Effekte können durch regelmäßiges Training stabilisiert und vertieft werden. Für den genesenden Suchtkranken ist regelmäßige Meditation eine wichtige Unterstützung im Entwicklungsprozess. Sie kann tiefe innere Ruhe und Gelassenheit schaffen. Dauerhaftigkeit und Training sind beim Meditieren von großer Wichtigkeit.

7. Schreiben 

Die menschliche Fähigkeit zum Schreiben kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der römische Kaiser Mark Aurel nutzte jede freie Minute zum Schreiben. Daraus ist sein philosophisches Meisterwerk „Selbstbetrachtungen“ hervorgegangen. Schreiben bietet die Möglichkeit, die eigenen Gedanken zu ordnen, weiterzuentwickeln und sich selbst tiefer zu reflektieren. Ob als Tagebuch, Gedankensammlung oder schriftliches Selbstgespräch angelegt, bietet Schreiben die Möglichkeit, zum eigenen Ich Abstand zu nehmen und sich mit einer anderen Perspektive tiefer, kritischer und prozessualer zu betrachten. So können auch Entwicklungen und Veränderungen deutlich werden. Für den Suchtkranken ist das Schreiben von höchster Bedeutung. Es schafft die Möglichkeit, sich selbst zu klären, besser kennenzulernen, hinderlichen Denktabus auf die Spur zu kommen und störende Hemmungen für neue Verhaltensweisen abzubauen.

Mit Seneca und Marc Aurel abstinent bleiben? – Stoizismus für Suchtkranke

Nutzen Sie diese Empfehlungen, die schon Kaiser Marc Aurel selbst angewendet hat, um den Genesungsprozess von Sucht zu begleiten und das eigene Leben von falschen und übertriebenen Emotionen und Fixierungen zu befreien. Der Stoizismus führt zu einem ausgeglicheneren, gelassenen Inneren. Gelassenheit ist eine wichtige Kompetenz zur Bewältigung von Lebens- und Gesellschaftskrisen (vgl. Gelassenheit (Sucht und Emotionen #2)) und zum Aufbau von Resilienz. Die Zukunft sinnvoll gestalten im stoischen Sinne bedeutet in der Gegenwart:

  • Den Charakter durch innere Haltung und Selbstdisziplin kultivieren und nicht durch äußere Kräfte kontrolliert werden.
  • Handlungsfähig und klar im Hier und Jetzt bleiben, dort wo ich sinnvoll handeln kann, auch wenn das Leben unplanbar wird.
  • Gelassen akzeptieren, was Du nicht ändern kannst – und mutig handeln, wo Du kannst.
  • Sinn finden im reflektierten Tun selbst, nicht nur im Ergebnis. Der Sinn entsteht durch planvolles, reflektiertes und realistisches Handeln. 

Zum Schluss:

Das Glück Deines Lebens hängt von der Beschaffenheit Deiner Gedanken ab. … Du hast die Macht über Deinen Geist, nicht über äußere Geschehnisse. Erkenne das, und Du wirst Stärke finden.”

Marc Aurel (Philosoph und römischer Kaiser, 121 – 180 n. Chr.)