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Abhängigkeit – ein paradoxes Konzept!?
Eine der häufigsten psychischen Krankheiten ist die Sucht. Halt! Oder sind es Abhängigkeiten? Neuerdings ist auch die Rede von Gebrauchsstörungen. Aber was stimmt dann jetzt davon? Welcher Begriff ist richtig und was bedeuten die verschiedenen Begriffe?
Die Tatsache, dass verschiedene Konzeptbegriffe zur Beschreibung ähnlicher Phänomene zirkulieren, ist grundsätzlich nichts Neues, tut einer komplexen Problematik, die in der Öffentlichkeit meist sowieso negativ bewertet wird, aber nicht gut, weil noch mehr Unklarheit und Verwirrung gestiftet werden. Daher geht es im Folgenden um eine Klärung der Begrifflichkeiten und die Bewertung ihrer Vor- und Nachteile.
Zunächst zu den Fakten, der Geschichte der Konzepte und der heutigen Ausgangsbasis.
Sucht oder Addiction?
Die Begriffe Sucht im Deutschen und Addiction im Englischen und Französischen haben sehr verschiedenartige Bedeutungen. Während Sucht vom althochdeutschen Sieck abstammt und Krankheit bedeutet, stellt Addiction einen Sklaven oder Schuldknecht dar. „Addicted to“ bedeutet also „versklavt von“. Die Vorstellung, dass ein Alkoholiker (diese Bezeichnung war im 19. und 20. Jahrhundert gebräuchlich) ein Sklave, Knecht, Diener o.ä. des Alkohols ist, erscheint auch heute noch absolut nachvollziehbar.
Das im frühen 16. Jahrh. In Deutschland entstandene Suchtkonzept für krankhaften Kontrollverlust in Bezug auf Alkohol („Saufteufel“) fokussiert auf die Exzessivität des Verhaltens und bewertet dieses moralisch negativ. Sucht ist die krankhafte Ausdrucksform abartigen, unkontrollierten Saufens. Mäßigung ist das primäre Ziel und Frömmigkeit und Gottesfurcht der geeignete Weg. Die theologische Dominanz im Suchtkonzept dauerte bis zum frühen 19. Jahrhundert, dann lösten medizinische und später psychosoziale Vorstellungen das alte moralische Suchtmodell ab.
Abhängigkeit statt Sucht ?
Ein Abhängigkeitskonzept (i.S. von „Nicht-aufhören-können“) dagegen ist erst durch Abstinenzforderungen im 19. Jahrh. entstanden und legt den Fokus auf die psychische Macht eines Suchtmittels im Leben des Betroffenen. Es macht den Nicht-mehr-aufhören-Könnenden zum machtlosen Spielball des Suchtmittels. Nicht die Exzessivität und die Suche nach Rausch und Transzendenz zählt, sondern das im Alltag Nicht-Mehr-Funktionieren.
Während Sucht bzw. Addiction eine Krankheit und die Versklavung durch ein Suchtmittel bezeichnen, fokussiert der Abhängigkeitsbegriff auf das nicht mehr Unterlassenkönnen eines Verhaltens, die damit verbundenen Zwänge und den Verlust von Freiheitsgraden im Leben. Bei allen Unterschieden bestehen natürlich viele Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zwischen den beiden Begriffen.
Der Abhängigkeitsbegriff hat sich in der Praxis nie gegen den Suchtbegriff durchgesetzt, obwohl das ICD ihn seit 1965 gebraucht. Das liegt vermutlich an der Vieldeutigkeit und Ambivalenz dieses Begriffes. Sucht ist eindeutig negativ konnotiert, während dies bei Abhängigkeit nicht der Fall ist, wie im Folgenden aufgezeigt wird.
Vor- und Nachteile des Abhängigkeitskonzepts
Das Abhängigkeitskonzept hat sich also deutlich später als das Suchtkonzept entwickelt. Ursprünglich als ein Symptom der politischen Korrektheit, weil man im Amerikanischen die hochbelastete Assoziation mit „Sklaverei“ vermeiden wollte. Welche Vor- und Nachteile hat es im Vergleich?
(1) Abhängigkeit ist hochgradig ambivalent: Es gibt gute und schlechte Abhängigkeiten (Mutter-Baby vs. Suchtmittel-Süchtiger).
(2) Es beschreibt mehr als „Kranksein“: anders als Sucht, das Kranksein bedeutet, beschreibt Abhängigkeit einen Aspekt dysfunktionalen Verhaltens, wobei nicht der Mensch als Ganzes krank sein muss. Abhängigkeit ist dann eine Funktionsstörung des Willens (Volition), der Motivation, der Emotionen und des Verhaltens. Man erreicht bei Abhängigkeit keine ausreichende Distanz zu einer Substanz bzw. zu einem Verhalten.
(3) Es ist nicht zwingend schwarz oder weiß, sondern lässt prinzipiell Abstufungen zu. Eine dimensional mehr oder weniger stark ausgeprägte Abhängigkeit ist durchaus denkbar.
(4) Der Abhängigkeitsbegriff ist weniger stigmatisierend (Abhängigkeit vs. Sucht), hilft also beim Streben nach Entstigmatisierung. Abhängig zu sein, ist weniger negativ und verurteilend, als süchtig zu sein. Das kann es Betroffenen leichter machen, ihre Realität anzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen.
(5) Bei Abhängigkeit kann leicht in physische und psychische Abhängigkeit differenziert werden. Diese Unterscheidung kann im therapeutischen Kontext Sinn machen, unterschiedliche Behandlungsziele definieren und auch die Relevanz unbewusster psychischer Prozess unterstreichen.
Sucht- bzw. Abhängigkeitskonzept in der Praxis
Wenn sich ein abhängiger, suchtkranker Mensch in Therapie begibt, kann er als Abhängiger hoffen, anstelle der Substanz Ersatz zu bekommen: Verständnis, Zuwendung, Mitmenschlichkeit, Respekt. Dadurch begibt er sich als soziales Wesen in neue Abhängigkeiten, die positiv und tief wirken können. Es ist aber in posttherapeutischer Zeit nicht zwingend, dass sie es tun, wenn die Auswahl der alten und neuen Sozialpartner nicht bewusst und reflektiert genug geschieht. Vor dem Hintergrund dysfunktionaler biographischer Prägungen kann es durchaus geschehen, dass sich selbst- und fremdschädigende Muster wiederholen. Auch Suchtverlagerungen drohen, die im Abhängigkeitskonzept dann als neue Abhängigkeiten aufscheinen.
Als Suchtkranker verliert er seine Konsumsubstanz, seine gesamten bisherigen Gewissheiten und Lösungen, die sich als Scheinlösungen erweisen, und muss einen Neuanfang wagen. Zur Konsumsubstanz bestand oft eine enge innere Bindung, da sie anfangs als Tröster, Helfer und Retter fungierte. Manche Suchtkranke vergleichen ihre anfängliche Beziehung zum späteren Suchtmittel mit einer Liebesbeziehung. Die Substanz vermittelt mit ihrer Wirkung Wärme, Schutz, Allmachtsvorstellungen und das Gefühl einer sicheren Bindung. Alles Sehnsüchte, die man ungern loslässt, am Ende dann große Enttäuschungen, die man kaum wahrhaben will.
Bei allen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Konzepten schafft der Abhängigkeitsbegriff mehr Freiräume und ist weniger total. Der Suchtkranke erreicht nur längerfristig durch das Ertragen und die Reflektion unangenehmer Folgezustände der Sucht eine Motivation, die dann jedoch im Idealfall einer Metamorphose gleicht. Beim Suchtkonzept ist die Lösung wie eine innere Wandlung aller Haltungen und Werte. Dazu braucht der Suchtkranke eine starke intrinsische oder zumindest eine hochwirksame extrinsische Motivation.
Das Erreichen von Unabhängigkeit oder Autonomie aus einer dysfunktionalen Abhängigkeit heraus ist das besondere Streben im Kontext einer Abhängigkeitserkrankung. Abhängigkeit und Unabhängigkeit sind nur scheinbar kategoriale Widersprüche. In Wirklichkeit kann es beides nur in dimensionalen Ausprägungen geben, also mehr oder weniger davon. So wenig wie möglich dysfunktionale Abhängigkeiten und so viel wie nötig funktionale, förderliche Abhängigkeiten. Bei der Suchterkrankung geht es im Unterschied zum Abhängigkeitskonzept um die Überwindung und damit völlige Negierung der Sucht. Es gibt keinen positiven Aspekt bei Sucht, den es zu bewahren gälte. Abhängigkeit kann relativiert werden, Sucht ist kompromisslos radikal. Deshalb ist der Suchtbegriff für Betroffene, die viel Abwehr gegen ihre Erkrankung zeigen anfangs schwieriger, am Ende aber ehrlicher und oft auch hilfreicher.
Der Begriff Abhängigkeit weist Vorzüge und Nachteile auf
Im Unterschied zu Sucht ist Abhängigkeit hochgradig facettenrech. Es gibt gute und schlechte Abhängigkeiten, Abstufungen und Veränderungen von Abhängigkeiten. Eine Mutter-Kind-Beziehung oder eine Liebesbeziehung ist ohne Abhängigkeit nicht denkbar. Andererseits ist die Abhängigkeit von einem Ausbeuter, Gewalttäter oder Erpresser schädlich und damit klar negativ. Mit dem Abhängigkeitsbegriff ist nicht nur eine De-Stigmatisierung der Sucht leichter möglich, sondern es können auch Abstufungen und Nuancen deutlich gemacht werden. Das kann beim Ausstieg aus der Sucht helfen, kann aber auch zu einer Bagatellisierung der Schwere der Erkrankung führen. Neben den benannten Vorteilen kann es nämlich nachteilig sein, dass der betroffene Abhängigkeitskranke nicht die volle Schädlichkeit und Negativität seiner Sucht erkennt. Der Abhängigkeitsbegriff relativiert die Schwere der Symptomatik.
Abhängigkeit vom Hilfesystem?
Bei der Bewältigung von Substanzabhängigkeit durch Therapie und andere Formen der hilfreichen Unterstützung sollte keine dauerhafte Abhängigkeit vom Hilfesystem entstehen. Die Maßnahmen sollten insgesamt Autonomie und Selbststeuerungsfähigkeit fördern. Ob Suchtselbsthilfegruppen Abhängigkeit von den Gruppen selbst fördern oder insgesamt zur Autonomie betragen, kann kritisch diskutiert werden. Zunächst leisten sie wichtige Hilfen bei der Bewältigung der Substanzabhängigkeit. Die Problematik drohender neuer Abhängigkeiten (vom Hilfesystem, von Gruppen, usw.) zeigt, dass menschliches Leben ohne Abhängigkeiten einerseits undenkbar ist, dass aber andererseits Abhängigkeiten sich in entweder in funktionale, nützliche oder dysfunktionale, selbstschädigende Formen entwickeln können.
Es ist die Aufgabe jedes Betroffenen, die Rolle der „neuen“ Abhängigkeiten nach einer Sucht selbst zu reflektieren. Dieses Dilemma zeigt, dass gerade bei Abhängigkeitserkrankungen so viel Hilfe und Unterstützung wie nötig, aber so wenig wie möglich stattfinden sollte, um insgesamt die Abhängigkeit vom Hilfesystem gering zu halten. Der Abhängigkeitsbegriff erweist sich insofern als paradox, als er gleichzeitig positive und negative Formen umfasst, so dass jeweils die Qualität und das Ausmaß einer Abhängigkeit zu berücksichtigen sind. Aber er hat andererseits auch viele Vorteile, gerade weil er weniger stigmatisiert und für die Betroffenen leichter zu akzeptieren ist.
Fazit für Betroffene: Ein Leben ohne Abhängigkeiten ist undenkbar. Wähle und reflektiere Deine Abhängigkeiten sorgfältig und entscheide Dich für die Besten!