Gesellschaft unter Veränderungszwang – Von der Schwierigkeit, alte Gewohnheiten loszuwerden (Eine psychologische Betrachtung)

Der Blick auf die Gesellschaft im Frühjahr 2020 lässt den Betrachter aufschrecken und sich wundern zugleich. Viele der liebgewordenen Alltagsthemen von Mülltrennung bis Fußball-Bundesliga sind in den Hintergrund getreten und öffnen den Blick auf anderes, heutzutage Wesentlicheres und Lebenswichtigeres. Die Ereignisse der letzten Monate sind neben der Trauer und Bitterkeit um die Opfer auch eine Gelegenheit zur Neu-Justierung von Werten und Sinnsystemen in den Gesellschaften. Die hervortretenden Themen sind alles andere als neu. Seuchen und Epidemien hat es in der Geschichte der Menschen schon immer gegeben. Die Jahrhunderte seit der großen Pestepidemie in Europa und Asien im 14. Jahrhundert sind voll davon. Der medizinische Fortschritt hat sie vergessen gemacht. Unter den nunmehr gegebenen Bedingungen ergeben sich zu Recht andere Prioritäten. Die Sicherheit und Gesundheit aller Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht und Sozialstatus sind zentrale Anliegen. Neben dem ethischen Grundkonsens sollen gleichzeitig auch die sozialen und ökonomischen Fundamente der Gesellschaft erhalten bleiben. Die Identitätsdebatten der letzten Jahre mit ihren bis zur Gesinnungsinquisition reichenden Spitzen erscheinen überflüssig und als akademischer Luxus. Es geht jetzt vor allem um die Veränderung von Gewohnheiten und Routinen, die riskant und gefährlich sind vom unbedachten Ins-Gesicht-Fassen bis zum Abstandhalten zu anderen Menschen.

Gewohnheitsänderung – eine Sisyphusarbeit?

Schnelle und nachhaltige Veränderung tun in diesen Zeiten Not. Der Mensch ist nicht auf der evolutionären Stufe des Igels und besitzt grundsätzlich genug Verstand und Antizipationsvermögen, sich an viele Herausforderungen anzupassen, insbesondere wenn sie – wie jetzt – ihm noch die besondere Gunst der relativen Langsamkeit erweisen und nicht wie vor 65 Mill. Jahren, als wir als Spezies noch nicht vor Ort waren, als Komet urplötzlich aus den Tiefen des Alls kommend, einschlagen. Die Chancen rechtzeitiger und dauerhafter Veränderung werden in diesem Beitrag besprochen. Wie dringend diese sind, zeigt sich inzwischen jeden Tag beim Blick in Nachrichtensendungen und Zeitungen. Beim Lesen von Berichten über die Lage in italienischen Krankenhäusern, dass ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen jeden Tag weit über ihr Limit gehen und emotional traumatisiert werden durch den Zwang zur Entscheidung, welche Patienten weiter leben dürfen und welche nicht, erschüttert es mich zutiefst und es macht mich traurig und wütend zugleich. Trauer wegen des Leids der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen  und wütend ob des Versagens der Staaten und Gesundheitssysteme, auch unter dem Druck der Gewinnmaximierung und der Unmenschlichkeit des entfesselten Neoliberalismus der frühen 2000-er Jahre.

Die Veränderung menschlicher Gewohnheiten gehört zu den zentralen Forschungsthemen der Gesundheitspsychologie und der Klinischen Psychologie. Bei Suchtkranken spielt die Veränderung festgefügter, oft rigider Verhaltensgewohnheiten und die Vermeidung von Rückfällen eine besonders wichtige Rolle. Deshalb kann die Suchtforschung und –therapie zu diesem gegenwärtigen Problem besonders viel beisteuern. Die derzeitige gesellschaftliche Situation erinnert dabei auch sehr an die Situation eines Suchtkranken, der auf Entzug von seinem gewohnten Suchtmittel ist – egal ob Alkohol, Nikotin, Opioid oder Glücksspiel. Die Suchtforschung hat schon vor Jahren herausgearbeitet, dass menschliche Veränderung bei hartnäckigen Verhaltensgewohnheiten einer Phasenfolge gehorcht, die nacheinander absolviert werden muss. Der amerikanische Suchtforscher und Psychologieprofessor William Miller hatte in den 80-er Jahren begonnen, diese Prozesse systematisch zu erforschen und die Veränderungsmotivation zum zentralen Thema seiner Untersuchungen zu machen. Am Anfang jedes Veränderungsprozesses steht die Wahrnehmung, dass irgendetwas nicht stimmt und dass die Fortsetzung des status-quo riskant sein könnte.

Die sechs Phasen der Veränderung

William Miller, der viele Jahrzehnte an der University of New Mexico in Albuquerque geforscht hat, sieht den Übergang von der (1) Vorbesinnungs- zur (2) Besinnungsphase als entscheidend dafür, dass Zweifel am eigenen Verhalten entstehen. Vorbesinnung heißt, dass ich alle Eindrücke und Wahrnehmungen, dass etwas mit mir und meinem Verhalten nicht stimmt, unterdrücke, nicht wahrnehme oder so intensiv verzerre, dass ein weiteres Nachdenken darüber nicht nötig ist. In der Vorbesinnungsphase besteht keine Einsicht in die Notwendigkeit einer Änderung. In der anschließenden Besinnungsphase entsteht durch Überlegungen, Erwägungen und ambivalente Kognitionen mehr oder weniger schnell die Erkenntnis, dass man sich verändern muss. Auf die jetzige Corona-Krise übertragen bedeutet dies, dass Menschen sich – besser schnell als langsam – mit der Lage auseinandersetzen, Informationen besorgen und bewerten und daraus Entscheidungen zu nachhaltigen Verhaltensänderungen vorbereiten. Dies bezieht auch und gerade auf liebgewordene, scheinbar unveränderliche Gewohnheiten, vom Ins-Gesicht-Fassen, über den morgendlichen Cafe-Besuch bis zum Bundesligaspiel am Wochenende. Die nötigen motivationalen und veränderungsbezogenen Prozesse laufen in der Regel – sowohl auf der gesamtgesellschaftlichen, politischen als auch auf der individuellen Ebene – zu langsam ab. Diese Latenzen in der Reaktionsbildung haben in allen besonders betroffenen Ländern (insbes. Italien, Iran, UK, USA) zu einem besonders starken Ausmaß der Krise beigetragen bzw. werden es noch. Es erfolgen Exazerbationen aufgrund zu langen Zuwartens und Zauderns.

Von der Überlegung zur Handlung – Veränderung wird praktisch

In der dritten Phase der Entscheidung (3) wird – meist unter emotionalem Druck – eine Entscheidung zur Verhaltensänderung getroffen. Vom ambivalenten Abwägen der vorherigen Phase kommt es jetzt zum Antrieb zur Veränderung mit verengtem Blick in Richtung neuem Verhalten mit hohem Momentum. Menschen entwickeln oft unter Stresserleben die nötige Energie zur Revision und Neuentwicklung des eigenen Verhaltens. Impulsive Personen zeigen in dieser und der folgenden vierten Handlungsphase (4) oft agitiertes, „überschäumendes“, impulsives Verhalten in Richtung Aktionismus, während depressive oder ängstliche Personen Veränderungen eher langsam, skeptisch oder negativistisch angehen. Wichtig in der Entscheidungsphase ist ein klares emotionales Bekenntnis zu neuem Verhalten, verbunden mit der Einschätzung, die notwendige Veränderung auch erreichen zu können. In der Veränderungsphase werden die nötigen Schritte für – möglichst nachhaltige – Veränderungen angegangen. Stehen nicht genügend eigene Ressourcen dafür zur Verfügung, sollte sich der Betroffene die Hilfe anderer einholen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, diesen Bedarf zu erkennen und um Hilfe zu bitten. Die nötigen Schritte zur Verhaltensänderung werden in dieser Phase beschritten und ausprobiert. Geht es etwa darum, sich nicht mehr ins Gesicht zu fassen, können Menschen dies erreichen, indem sie für die zugrundeliegenden Automatismen achtsamer werden und im Problemfall Bewegungsabläufe unterbrechen oder sich die achtsamen Rückmeldungen anderer im Falle der Zuwiderhandlung einholen. Das folgende Problem ist nun, dass eine erreichte Verhaltensänderung auf kurz oder lang ins alte Muster zurückfällt und damit nicht dauerhaft stabil bleibt.

Von der Verhaltensänderung zur Stabilisierung und Routinierung – Training hilft!

Die erreichten Verhaltensänderungen, sich z.B. nicht mehr ins Gesicht zu fassen, zwei Meter Abstand zu anderen Menschen  zu halten, nicht mehr mit anderen einen Plausch zu halten usw., müssen nunmehr stabilisiert und vertieft werden. Die (5) Stabilisierungs- und Trainingsphase beginnt! Es gilt, die neuen, anfangs fremdartig erscheinenden Verhaltensweisen  in automatische Routinen („Autopilotfunktion“ des Gehirns) zu überführen. Hierfür einzig geeignet sind Trainingsmaßnahmen. Miller spricht von „Maintenance“, der wiederholten, häufigen Ausführung der erreichten Verhaltensänderung, auch und gerade unter Stressbedingungen, in denen die Achtsamkeit üblicherweise heruntergefahren wird. Verhaltensexperimentelle Studien haben gezeigt, dass neue Verhaltensweisen, die nicht zum bisherigen Verhaltensrepertoire eines Menschen gehören, oder sogar seinem evolutionären oder kulturellem Erbe widersprechen  („social distancing“) über mehrere Tage und oft auch mehr als 60-80mal wiederholt werden müssen. Übung macht den  Meister, weiß der Volksmund schon seit Jahrhunderten. Völlig zu Recht! Erst dann kommt es zu einer Aufrechterhaltung und nach und nach automatischen Ausführung des zunächst neuen, fremd erscheinenden Verhaltens. Erst dann erreichen die neuen Verhaltensabläufe die tieferen Gehirnstrukturen des motorischen und aktionalen Gedächtnisses. Die neuen Verhaltensweisen hinterlassen nach und nach Spuren in den impliziten Verhaltensregulationsprozessen des Nervensystems. Also ist Üben und Wiederholen angesagt! Nur so  gelangen neue Verhaltensweisen  vom Vorsatz zum Automatismus. Dies ist eine besonders wichtige Lehre aus der Suchttherapie. Die jetzt in der Corona-Krise geforderten Veränderungen  sind vergleichsweise einfacher.

Rückfälle sind schlecht, aber keine Katastrophe!

Jede Verhaltensänderung kann wieder vergessen werden, über Nacht, im Stress oder aus anderen Gründen. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Auch diese Aussage ist im Kern psychologisch richtig. Meister kommen aus dem realen Leben und dem Trainingslager, der Verhaltenswerkstatt. Dies heißt aber auch: Jeder kann es schaffen! Genau genommen, fast jeder. Denn es gibt kognitive Blockaden und Persönlichkeitsmerkmale, die den  Erfolg verhindern: Abwehr, Widerstand, Dummheit, Borniertheit, falsche Überzeugungen, Verschwörungstheorien, kurz: alles, was jetzt in der Krise gefährlich ist. Für den lernfähigen, problemsensiblen, aber nicht übertrieben emotionalen („histrionisch“) Menschen sind Rückfälle schlimm, aber auch ein Hinweis auf noch bestehende Verhaltens- und Lerndefizite, die sich durch erhöhte Anstrengungen konstruktiv beheben lassen. Sollten Verhaltensrückfälle auftreten, ist es wichtig, dass dies nicht zu Resignation oder Selbstaufgabe führt, sondern dass sie Anlass für weitere Anstrengung und Lernbemühungen sind.

Fazit

Auch alteingesessene Verhaltensgewohnheiten sind durch Motivierung, Einsicht und Übung veränderbar. Dabei ist Veränderung im sozialen Netzwerk (Partnerschaft, Familie, Team) leichter als alleine. Aber auch alleine sind diese Änderungen machbar. Aber im Zweifelsfalle: Suchen Sie sich einen Coach, z.B. aus dem Bekanntenkreis, der Sie unterstützt und motiviert und Feedback gibt. Und kaum etwas ist motivierender als positives Feedback.