Betrug & Todesfälle: Geschichte und Lehren der 2. US-amerikanischen Opioid-Epidemie

Opioide gelten als die stärksten psychotrop wirksamen Substanzen mit einem sehr hohen Abhängigkeitspotential, aber auch einem breiten Wirkspektrum von Schmerzdämpfung, Angstlösung, Einschlafhilfe, Euphorisierung und Filter gegen negative Emotionen. Opioide sind Schmerzmittel, die an den Opioid-Rezeptoren des Nervensystems andocken. Der bekannteste Vertreter der Opioide ist das Morphin, das schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Medizin zur Schmerztherapie eingesetzt wird.

Neben diesem natürlichen, aus dem getrockneten Milchsaft des Schlafmohns gewonnenen Pflanzenwirkstoff gibt es heute noch eine ganze Reihe halbsynthetischer und synthetischer Opioide. Opioide sind insgesamt betrachtet die effektivsten und daher auch wichtigsten Schmerzmittel, die der Medizin zur Verfügung stehen. Die Schmerz- und Palliativmedizin ist die medizinische Disziplin, die neben der Suchtmedizin ein besonderes Interesse an evidenzbasierten Kenntnissen und Forschung zu Indikationen und Risiken von Opioiden hat.

USA – Land der Opioide?

Die USA sind in ihrer Geschichte immer wieder Schauplatz massiver Drogenepidemien geworden. Es scheint, dass ihre übermäßig prohibitive Mentalität, sozioökonomische Strukturen und die Alltagskultur sie besonders anfällig für exzessiven Konsum und Sucht machen. Dazu gehören auch soziale Ausgrenzung, Rassismus, Arbeitslosigkeit und gesundheitliche Ungleichheiten. Die jüngste Drogenepidemie in den USA, die sich auf zunächst ärztlich verordnete Opioide bezieht, hat besonders viel internationale Aufmerksamkeit erhalten. Bislang sind mehr als 450.000 Menschen an dieser Epidemie gestorben. Alleine im Jahr 2017 waren 72.000 Todesfälle im Zusammenhäng mit Opioiden, die meisten bei Abhängigen, zu beklagen.

Zur Einschätzung der Gesamtlage ist es interessant, dass in den USA zuletzt 50-mal mehr Opioide verordnet wurden als im Rest der Welt. Es ist daher durchaus naheliegend, die sozialen und ökonomischen Strukturen des Landes zusammen mit kultur- und sozialhistorischen Aspekten für das Phänomen der Opioidaffinität als mitentscheidend anzusehen. Aufgrund des extremen Ausmaßes der Drogenepidemie erklärte der damalige US-Präsident Trump m Oktober 2017 den nationalen Gesundheitsnotstand.

Kurze Geschichte der US-Drogenprohibition

Die USA haben zwar vergleichsweise nur eine kurze Geschichte als Land und Nation, diese ist aber intensiv mit Drogenfragen und Drogenpolitik verwoben. Die Wurzeln liegen hier vor allem im Religiösen, genauer gesagt in den starken protestantischen Einflüssen bei den Einwanderern, konkret in der protestantisch-anglikanischen Immigration von England und Schottland nach Nordamerika über Jahrhunderte. Schon die ersten Einwanderer, die im frühen 17. Jahrhundert sesshaft wurden, werden seit dem 19. Jahrhundert als die Pilgrim Fathers bezeichnet. Ironischerweise kam das erste Opium vermutlich an Bord der kleinen Schiffsapotheke des Schiffsarztes der Mayflower im Jahr 1620 in die neue Welt.

Als Laudanum, einer opiumhaltigen Tinktur, gehörte es für Jahrhunderte zur Standardausrüstung aller Apotheken und vieler Haushalte. In Amerika kannte man diese Pflanze zuvor nicht. Zunächst aber blieb der Konsum von Opiaten gering, bis sich zum Ende des 19. Jahrhunderts eine erste große Epidemie in dem Land aufbaute. Diese hing eng mit der Freizügigkeit im Umgang mit dem Vertrieb der Substanz auf der einen und den schlechten sozialen Lebensbedingungen – vor allem in den Großstädten – im Zuge der rasanten Industrialisierung zusammen. Opium stößt immer in eine Lücke, wusste schon der amerikanische Schriftsteller William Boroughs (1914 – 1997) in seinem Buch „Bekenntnisse eines unbekehrten Rauschgiftsüchtigen“ 1953 (dt. 1963) zu berichten. Diese Lücke kann sozialer, psychischer oder medizinischer Art sein. Ein unerträgliches Defizit, das Menschen erleben, und zu kompensieren suchen.

Geschichte wiederholt sich nicht?! – Doch!

US-Präsident Trump erklärte 2017 den Gesundheitsnotstand für die USA. Er merkte an, dass die Nation noch nie zuvor eine solche Drogenkrise erlebt hätte. Seit 1999 waren mehr als eine halbe Million Menschen an ihrer Opioidsucht gestorben. Die prohibitive Drogenpolitik und die großen gesundheitlichen Ungleichheiten des Landes haben die Krise verschärft, nicht verhindert. Noch nicht einmal entschärfen konnte die Drogenpolitik die Krise. Aber die Annahme, dass die USA eine solche Opioid-Krise noch nie erlebt hätten, ist falsch. Die USA erleben – derzeit im langsam abklingenden Maß – schon ihre zweite schwere Opioid-Krise.

Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Jahren nach dem Bürgerkrieg 1865, entwickelte sich in den USA eine schwere Opiatkrise. Laudanum, eine Mischung aus Wein und Opium, war in den USA des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Jedermann konnte es freiverkäuflich erwerben. Es wurde als Mittel gegen Zahnschmerzen, chronischen Husten, als Schlafmittel – auch bei Kindern – und bei Körperschmerzen aller Art angewandt. Die heutige zweite Krise weist manche Ähnlichkeiten zu der ersten auf: Leichtfertige Verschreibung von Opioiden, intensive Werbung, breiter Konsum, Suchtentwicklung und daher Dosissteigerung mit anschließender Massenverelendung sind die wichtigsten Parallelen.

Höchste Strafe in der Pharmageschichte

Von der deutschen Presse weitgehend unbeachtet, kam es Ende November 2020 zu einem vorläufigen Höhepunkt im Prozess gegen den Oxycodon-Hersteller Purdue Pharma. Das Management des Unternehmens bekannte sich in drei relevanten Punkten der Anklage vor einem District-Gericht in Newark (New Jersey) schuldig, unter anderem der Verschwörung zum Betrug zu Lasten des amerikanischen Staates und einiger Bundesbehörden und damit des amerikanischen Volkes. Mit dem erst nach mehreren Jahren erfolgten Schuldeingeständnis hat Purdue zugegeben, seine gefährlichen Produkte aggressiv vermarktet und vertrieben zu haben, obwohl es wusste, dass die Substanzen durch Anbieter an Drogenabhängige gelangen würden.

Die verhängten Strafen, denen das Unternehmen in einer gerichtlichen Vereinbarung zustimmte, belaufen sich auf 8.3 Mrd $. Das Unternehmen selbst hat 2019 Insolvenz angemeldet, so dass es durchaus möglich ist, dass die Strafe, die wohl auch nicht die letzte sein wird, nicht vollständig bezahlt werden wird. Außerdem muss die Familie Sackler, die das Unternehmen besitzt, 225 Mill. $ aus ihrem Vermögen bezahlen. Das Vermögen des Familienclans war im Jahr 2016 von Forbes auf ca. 19 Mrd. $ geschätzt worden. Ein Großteil dieses Vermögens stamme aus dem erfolgreichen Vertrieb des 1996 eingeführten OxyContins, hieß es in verschiedenen Quellen. OxyContin ist der Markenname des Pharmakons Oxycodon.

Opiate oder Opioide?

Opium ist vom altgriechischen Opos hergeleitet, was „Saft“ bedeutet, und bezieht sich auf den Saft der Mohnpflanze. In der Praxis werden die Begriffe „Opiat“ und „Opioid“ oft synonym verwendet, was allerdings nicht korrekt ist. Der Begriff „Opiate“ umfasst alle Stoffe, die in der Natur im Schlafmohn (papaver somniferum) vorkommen. Diese binden nicht alle an den Opiatrezeptoren. Der Begriff „Opioide“ hingegen ist ein Sammelbegriff für eine heterogene Gruppe natürlicher, halbsynthetischer und synthetischer Substanzen, die morphinartige (Hauptalkaloid im Opium) Eigenschaften besitzen und an den Opiatrezeptoren binden (Walter & Soyka, 2019).  Man unterscheidet im Weiteren körpereigene endogene Opioide, die eine Rolle bei der Schmerzunterdrückung im Rahmen der Stressreaktion spielen, von therapeutisch oder missbräuchlich zugeführten exogenen Opioiden.

Geschichte der Opiate

Bereits um 5000 v. Chr. ist die medizinische Verwendung des Saftes aus dem Schlafmohn bei den Sumerern in Mesopotamien und später auch in Ägypten bekannt. Im 1. Jahrhundert n. Chr. beschrieben griechische und römische Gelehrte ausführlich, wie Extrakte aus der Mohnpflanze gewonnen und angewendet werden können. Diese Anwendung bezieht sich vor allem auf Schmerzbehandlung und bei Schlafstörungen. Der berühmte spätmittelalterliche Arzt Paracelsus entwickelte im 15. Jahrhundert das Laudanum, einer alkoholischen Opiumtinktur, das über Jahrhunderte als „Allheilmittel“ in Apotheken hergestellt und vertrieben wurde.

Dem Laudanum („das Lobenswerte“) verdankt Opium den Ruf als Universalheilmittel. 1806 gelang dem Paderborner Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner (1783 – 1841) die Gewinnung eines konzentrierten Wirkstoffes aus dem Opium, den er Morphium bzw. Morphin nannte, nach dem griechischen Gott des Schlafes und der Träume Morpheus. Morphin oder Morphium ist ein Hauptalkaloid des Opiums und zählt damit zu den Opioiden.

Im Jahre 1877 wurde der Begriff Morphiumsucht durch den Berliner Arzt Eduard L. Levinstein geprägt. Er beschrieb anhand zahlreicher eigener Fallerfahrungen das Bild einer starken Sucht mit erheblichen körperlichen Komplikationen und notfallmedizinischen Krisen.  1898 wurde Diacetylmorphin unter dem Namen ,,Heroin‘‘ als Schmerz-und Hustenmittel eingeführt und zunächst ohne Verschreibung käuflich erwerbbar. In den Jahren 1937 bis 1943 wurden die ersten vollsynthetischen Opioide entwickelt (Pethidin und Methadon sowie deren Derivate). Diese spielen bis heute noch eine sehr wichtige Rolle in der Pharmaindustrie. 1973 gelingt der Nachweis spezifischer Opioidrezeptoren, zunächst auch als Schmerzrezeptoren bezeichnet. Dies sind die Rezeptoren, an denen auch die körpereigenen Endorphine (ein Kompositum aus endo = eigen, innen und Morphin) andocken. Morphin (=Morphium) war das erste aus dem Opium isolierte Opioid. Aufgrund der aufwändigen chemischen Synthese, wird es immer noch aus Opium gewonnen. 

Oxycodon – ein Star unter den Opioiden

Am Anfang der zweiten US-amerikanischen Opioid-Krise stand das verschreibungspflichtige Schmerzmittel Oxycontin, das die Familie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma 1996 auf den Markt gebracht und als schmerzstillend und mit einem sehr geringen Suchtpotenzial verbunden aggressiv über Jahre beworben hat. Es handelt sich dabei um ein besonders starkes Opioid der WHO-Klasse III, das nur in Fällen starker chronischer Schmerzen – wie z.B. bei Krebserkrankungen – verordnet werden soll.

Der Hauptbestandteil des Schmerzmittels Oxycodon ist seit 1929 in Deutschland nur auf Betäubungsmittelrezept zu haben. Purdue und andere Pharmaunternehmen erreichten durch intensive Lobbyarbeit und aggressives Marketing, dass Opioide, die zuvor vorwiegend bei Schwerkranken und Sterbenden angewendet worden waren, in den USA nun auch bei alltäglichen Schmerzen verschrieben wurden. Das aggressive und korrumpierende Marketing fand besonders bei Ärzten statt, die bereits viele Schmerzmittel in der Vorgeschichte verschrieben hatten.

Die Verordnungen hatten immer häufiger den Status von relativ harmlosen Befindlichkeitsstörungen mit Schmerzsymptomen. So dürften auch viele Patienten mit somatoformen, d.h. psychisch bedingten, Schmerzen das Medikament erhalten haben. Der starke Anstieg der Zahl der opioidbedingten Drogentoten in den USA war einer der Gründe dafür, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den Jahren 2015 bis 2018 erstmals seit dem Ersten Weltkrieg sank. 

Geldgier und Menschenverachtung

Opioide greifen massiv in die Hirnchemie ein und können rasch zu einer Abhängigkeit führen. Durch missbräuchliche Überdosierungen kommt es zu Todesfällen, vor allem da die Opioide das Atemzentrum beeinflussen und lähmen können. Die als Medikamente im Rahmen der US-Opioid-Epidemie verordneten Substanzen waren vor allem Oxycodon (Handelsname Oxycontin oder Percocet), Tramadol, Hydrocodon (Handelsname Vicodin).

Nach Eintritt einer Abhängigkeit konnten sich viele Patienten die legal verordneten Medikamente nicht mehr leisten. In den USA zahlen die Patienten in der Regel ihre Medikamente ganz oder überwiegend selbst.  Dann erfolgte fast regelhaft ein Umstieg auf das billigere Opioid Heroin (Diacetylmorphin), das als sogenanntes „Straßenheroin“ im illegalen Handel ist. Bisweilen war auch der Konsum des noch stärkeren Fentanyl zu beobachten. Es entwickelte sich ein Millionenheer Opioidabhängiger, bei denen der Einstieg in die Sucht durch legale, letztlich leichtfertige ärztliche Verordnungen erfolgt war. Der motivationale Hintergrund für die menschliche Tragödie, die sich in den USA ab 2005 abspielte, waren Geldgier und Menschenverachtung der führenden Pharma-Manager.

Analogien und Musterwiederholungen im Fall Purdue & Co.

Eine genauere kultur- und kriminalhistorische Betrachtung der US-Opioid-Epidemie der 2010-er Jahre zeigt viele Parallelen zu früheren Suchtepidemien, so dass von Musterwiederholungen auszugehen ist. Diese Muster bestehen in folgenden Schritten: (1) Erfindung oder Synthetisierung eines neuen psychotropen Produkts, (2) massive Lobbyarbeit und Bewerbung des Produkts mit verharmlosenden, positivierenden Botschaften, (3) Täuschung und Betrug der Öffentlichkeit und relevanter Regierungsbehörden, (4) massive Gewinnsteigerung durch Suchterzeugung bei einem Großteil der Konsumenten.


Diese Abläufe lassen sich bei der Markteinführung von Kokain und Heroin im späten 19. Jahrhundert beobachten. Auch hier haben die relevanten Firmen lange Zeit von der Gefährlichkeit und dem Suchtrisiko ihrer Produkte gewusst und dies geheim gehalten, um weiter starke Gewinne zu erzielen. Ein anderes Beispiel von massiver Manipulation, Täuschung und Betrug im Umgang mit suchterzeugenden Substanzen ist der „Big Tobacco“-Skandal (ebenfalls USA) aus den 1990-er Jahren. Das Produkt „Zigarette“ war unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von den Inhaltsstoffen so manipuliert worden, dass junge Konsumenten tiefer inhalierten und schneller abhängig wurden. Gleichzeitig wurde die Kenntnis dieser Fakten geleugnet. 

Fazit

Die über Jahrzehnte weltweit beherrschende Drogenpolitik der USA kann für Europa kein Vorbild sein. Die europäischen Drogenpolitiker müssen sich endlich emanzipieren und eigene, smarte und humanistische Konzepte entwickeln und umsetzen. Dazu gehört ganz sicher nicht, Pharmakonzernen sehenden Auges den Markt in einem falsch verstandenen Sinne von „freier Marktwirtschaft“ zu öffnen. Das gilt für alle Substanzen, die nach ihrem Risiko abgestimmt reglementiert und kontrolliert werden sollten.

Im Bereich der Opioide können wir viel von den US-amerikanischen Irrwegen lernen. Die hohe Hürde zum Verordnen bei gleichzeitig schmerzmedizinisch sensibler und kompetenter Verordnung sollte erhalten bleiben. Gleichzeitig ist es wichtig, die psychosozialen Lebensbedingungen so gestalten, dass die Lücken, in die das Opioid stoßen kann, so klein wie möglich sind. Es wird aber immer Lücken geben, die Menschen anfällig für unsachgemäßen Gebrauch der Opioide machen.

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